Nevada und Semipalatinsk sind auf traurige Weise miteinander verknüpfte Ortsbezeichnungen. In dem amerikanischen Wüstenstaat wurden über 1.000, im einst zur Sowjetunion gehörenden Gebiet in der kasachischen Steppe etwa 470 Atombomben getestet. Die vor zwanzig Jahren ins Leben gerufene Protestbewegung „Nevada  – Semipalatinsk“ setzte die Einstellung der Tests in Kasachstan durch. Mittlerweile ist in die Region die Normalität weitgehend zurückgekehrt.

/Bild: Ulrich Steffen Eck. ‚Semej liegt am Irtysch und an der Turkestan-Sibirischen-Eisenbahn (TurkSib).’/

Im Februar 1989 verlas Olschas Sulejmenow, kasachischer Dichter und Abgeordneter des Obersten Sowjets der UdSSR, im Fernsehen eine Protesterklärung. Er klagte darin die sowjetischen Machthaber an, einen „Atomkrieg gegen das eigene Volk“ zu führen. Auf Initiative Sulejmenows entstand die Bewegung „Nevada – Semipalatinsk“. Der Dichter wurde unlängst Ehrenbürger der Stadt Semej und Ehrenprofessor der dortigen Universität. Im Mai wird auf einer gleichzeitig in Almaty und Astana geplanten internationalen Konferenz der 20-jährigen Geschichte von „Nevada – Semipalatinsk“ gedacht.

Bei der Ortsbezeichnung Semipalatinsk denken Westeuropäer wohl zunächst an das eine: Die sowjetischen Atombombentests auf dem „Polygon“, dem Testgelände in der kasachischen Steppe. Dass das Gebiet Semipalatinsk die Heimat wichtiger kasachischer Persönlichkeiten wie des Nationaldichters Abai und des Dramatikers Auesow ist, liegt im Bewusstsein oft tief verschüttet durch die Schrecken der jüngeren Geschichte. Als Verbannungsort zur Zarenzeit war Semipalatinsk auch Ort intellektueller Konspiration. Fjodor Dostojewski beispielsweise war hierher verbannt und guter Freund des kasachischen Gelehrten Schokan Walichanow geworden.

Neuer Name soll vergessen helfen

Während der jahrzehntelangen heißen Phase des kalten Krieges waren insgesamt 18 Millionen Hektar nordostkasachischen Bodens für nukleare, biologische und chemische Tests „genutzt“ worden. Auch schwere Erkrankungen und selbst der Tod von Menschen wurden dabei bewusst in Kauf genommen – schließlich wollte man die Wirkungen der neuen Waffen an anschaulichen Objekten studieren. Eine im Gebietsmuseum von Semipalatinsk ausgestellte, ehemals geheime Liste gibt Aufschluss über das Schicksal von 40 Menschen, die während eines Atomtests in einem ansonsten evakuierten Ort zurückgelassen wurden: 28 von ihnen starben sofort, 3 weitere später an Krebs. Die Namen auf der Liste sind übrigens ausschließlich kasachischen Ursprungs. Die Vierzig hatten den Befehl bekommen, im Dorf zu bleiben, „um das sozialistische Eigentum zu bewahren“.

Das Ende des „Atomkriegs gegen das eigene Volk“ wurde 1989 – nach immerhin vierzig Jahren – durch die Bewegung „Nevada – Semipalatinsk“ eingeleitet und schließlich durchgesetzt. 1991 wurde das Testgebiet auf Anweisung des kasachischen Präsidenten Nasarbajew geschlossen.

Der Initiator von „Nevada – Semipalatinsk“ Olschas Sulejmenow war zusammen mit dem Dichter Muchtar Schachanow einer der Kopräsidenten der Volkskongress-Partei, die zunächst präsidentenfreundlich agierte, später allerdings zur Oppositionspartei wurde. Sulejmenow wurde von 1994-95 als Führer der oppositionellen „Respublika“- Koalition gar als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt.

1997 wurde im Zuge einer Verwaltungsreform das Gebiet Semipalatinsk in das Gebiet Ostkasachstan eingegliedert. Gebietshauptstadt des neuen größeren Oblasts Ostkasachstan ist seither Öskemen (russisch Ust Kamenogorsk) Die Bedeutung der heute immerhin noch reichlich 314.000 Einwohner beherbergenden Stadt Semipalatinsk ging damit zurück.

Im Juni 2007 machte Nursultan Nasarbajew den Vorschlag, Semipalatinsk in Semej umzubenennen. Begründet wurde die Idee einerseits mit den schlechten Assoziatonen, die der alte Name der Stadt bei Einheimischen, aber auch bei potenziellen Investoren oder Touristen wecken würde, andererseits mit der gewachsenen Bedeutung der kasachischen Sprache.

Die Deutschen in Ostkasachstan

Ungefähr 13.000 als russlanddeutsch geltende Personen leben noch auf dem Gebiet des ehemaligen Oblasts Semipalatinsk. Im Jahre 1989 waren es noch 44.113, vor zehn Jahren, also 1999, noch 17.231. So zumindest weiß es Anatoli Wiese, der Vorsitzende der regionalen Gesellschaft der Russlanddeutschen „Wiedergeburt“. Sein Büro befindet sich in einem durch das städtische Akimat finanzierten Gebäude, zusammen mit den Büros anderer lokaler Minderheiten. „Dafür, dass wir hier eine kostenlose Heimstätte haben, sind wir dem Akimat natürlich zu Dank verpflichtet“, meint der Vorsitzende.

Anatoli Wiese führt akribisch Buch über Ab- und Zugänge russlanddeutscher Landsleute. Im letzten Jahr seien genau 15 Familien aus Deutschland in das Gebiet Ostkasachstan zurückgekehrt. Die Motive seien vielfältig. Einerseits handele es sich bei den betreffenden Familien um ethnisch gemischte, und gerade der ethnisch russische Teil habe oft Integrationsschwierigkeiten in Deutschland. Andererseits würden ältere, erkrankte Menschen mitunter lieber in ihrer Heimat den Lebensabend verbringen, als im fremden Land in Mitteleuropa. In einem Einzelfall sei ein Russlanddeutscher zurückgekommen, um hier wieder als selbstständiger Kleinunternehmer im landwirtschaftlichen Bereich zu agieren. Das sei in Deutschland eher schwierig gewesen.

Der Höhepunkt der Ausreisewelle nach Deutschland war – so Wiese – das Jahr 1996. Damals seien circa 5.400 Menschen nach Westen aufgebrochen.

Allerhöchstens 20 Prozent der hier verbliebenen als deutschstämmig Geltenden würden die deutsche Sprache beherrschen, meint Anatoli Wiese. Gerade die jüngeren Generationen seien eher in den Landessprachen Russisch und Kasachisch versiert. Von kasachischen Mitbürgern höre man oft, dass die Deutschen eher bereit wären, die kasachische Sprache zu erlernen, als ethnische Russen. Ansehen würden die Deutschstämmigen des Gebietes vor allem durch ihren Beitrag zur Landwirtschaft genießen. Der Agrarsektor sei nach wie vor ein russlanddeutsches Aushängeschild.

Semej ist heute vor allem Verkehrsknotenpunkt und Standort für Hochschulen und Industrie. Hier wird Steinkohle verarbeitet, es gibt ein Kabelwerk, holzverarbeitende Betriebe, Textil- und Nahrungsmittelindustrie sowie Maschinenbau. Der kulturgeschichtlich interessierte Besucher findet neben dem Gebietsmuseum ein Abai-, ein Dostojewski- und ein Kunstmuseum. Auf weiten Teilen des west-südwestlich der Stadt gelegenen ehemaligen Testgeländes „Polygon“ weiden mittlerweile wieder Schafe, Pferde und Rinder. Die Krebsrate in Kasachstan ist allerdings heute noch doppelt so hoch wie im Rest der ehemaligen Sowjetunion.

17/04/09

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