Das Pamir-Gebirge gehört mit seinen 7.000er-Gipfeln zum Dach der Welt. In der Nachbarschaft zum Hindukusch und zum Himalaya gelegen, ist es eine der weltweit höchsten Regionen. Die heute als Pamir Highway bekannte, ehemalige sowjetische Hauptstraße M41 führt vom Grenzgebiet Tadschikistans zu Afghanistan und China durch das Bergland von der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe bis in die kirgisische Stadt Osch, vorbei an Städten, Dörfern, Siedlungen und endlosen Landschaften.

Mit jedem Schritt, den ich gehe, zieht sich meine Beinmuskulatur zusammen, als würde sie gerade viel mehr zustande bringen, als nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ganz großes Kino, denke ich. Als hätte ich noch nie Sport gemacht.

Ich gehe weiter, Schritt für Schritt, bis ich schließlich über den letzten Punkt hinwegsehen kann. Vor mir breitet sich mit tausend kleinen und großen, braunen und weißen Spitzen ein zerklüftetes Gebirge aus, das ringsum von tiefblauem Wasser umflossen ist. Dort vergesse ich (fast), wie mich der Aufstieg und die zunehmend sauerstoffarme Luft in den vorherigen anderthalb Stunden geplagt haben. Dieser Gipfel über dem Karakul-See ist wortwörtlich der Höhepunkt meiner Reise, denn hier stehe ich auf knapp 4.700 Metern höher als je zuvor.

Dieser Tag ist mein vorletzter auf dem Pamir Highway und eindrucksvoller könnte dieser Ausblick wohl kaum sein. Vor etwas mehr als zwei Wochen bin ich von Duschanbe aus aufgebrochen, als noch knapp 1.300 Kilometer durch das tadschikische und kirgisische Nirgendwo bis nach Osch vor mir lagen.

„Es ist einfach unglaublich, aber wir sind angekommen!“, rufe ich meiner Begleitung Eliza in aller Euphorie zu. Wir haben es wirklich geschafft. Ohne Allradantrieb habe ich die zweieinhalb Tonnen meines alten Peugeot-Kastenwagens ziemlich schadenfrei über diese frühherbstlichen Passstraßen manövriert bekommen. Dafür ist Stolz gar kein Wort! Einfach war es jedenfalls nicht.

Zwei Reihen Gold

Es ist Anfang September und noch immer heiß, während wir in der Mittagssonne von Khorog aus bis in das nächste Bergdorf wandern. Hinter dem Fluss mit der hängenden Holzbrücke, die mit viel Bewegungsfreiheit in beide Richtungen schwingt, geht es steil nach oben. Je höher wir steigen, desto weiter können wir in das Tal hinabblicken. Der Flusslauf ist von Pappeln gesäumt und damit entsteht ein überraschend grüner und lebendiger Kontrast zu den trockenen, braungrauen Felshängen zu beiden Seiten.

In dem abgelegenen Dorf angekommen, dauert es nicht lange, bis wir als offensichtlich Nicht-Einheimische von den Menschen bemerkt werden, vor allem von den Kleinen. Spätestens beim Anblick meines Hundes Vedi wird scheinbar jedes Spielzeug uninteressant. Sie schauen, tuscheln, zeigen auf uns und kommen dann langsam heran. Vedi, der in Zentralasien fast immer im Mittelpunkt steht, genießt die Aufmerksamkeit, die heute in Form eines Brotstückes an ihn herangetragen wird.

Schließlich nehmen uns auch die Erwachsenen wahr und laden uns ein. Wir betreten ein großes Haus, dessen großes Wohnzimmer mit Stoffen ausgekleidet ist. Sowohl der Boden als auch die Wände sind mit bunten Mustern und Farben bedeckt, die nach zentralasiatischer Manier nicht immer zusammenpassen, aber immer mindestens ein Blumenmuster beinhalten. Wir nehmen auf dem Boden Platz und sitzen im Schneidersitz an den typischen, kniehohen Tischen. Obwohl die Versorgung mit Lebensmitteln im Pamir-Gebirge nicht besonders üppig ist, werden wir reichlich bewirtet und es gibt Tee, Kartoffeln und Süßigkeiten. Kerzengerade in einer Reihe sitzen einige Kinder neben uns und beobachten jede unserer Bewegungen – und Vedi natürlich auch.

Unserem Gastgeber sieht man das Leben an. Wind und Wetter scheinen sich in seine Haut und seine Hände gegraben zu haben, sie sind zerfurcht und rau. Sein Lachen fällt dann in sein verhängtes Gesicht, wenn sich das wenige, von den Stoffen gedämmte Licht des Raumes in seinen Goldzähnen spiegelt. Als wir uns mit tausend Dank verabschieden, glänzen uns die zwei Reihen zum letzten Mal entgegen.

Vom fast fehlerfreien Fred

Wer sein Auto liebt, der schiebt, denke ich, während ich bei offener Fahrertür – eine Hand am Rahmen, eine am Lenkrad – mein Auto vom Feldweg in Richtung Straße bewege. Nach einer ruhigen Nacht unweit der ohnehin nicht besonders viel befahrenen Hauptstraße, lässt mich mein Kastenwagen Fred erneut im Stich. Glücklicherweise macht er das nicht besonders häufig.

Gemeinsam sind wir von Deutschland aus bis hierher gefahren, wobei mir Fred als Auto und Wohnraum in den letzten anderthalb Jahren und auf über 20.000 Kilometern sehr gute Dienste erwiesen hat. Den Pamir Highway zu befahren, sollte jedoch zu unserer bisher größten, gemeinsamen Herausforderung werden.

Nun ist es also soweit, die Batterie streikt schon am zweiten Morgen in Folge. Nach gut 20 Minuten kommt das erste Auto vorbei, ein LKW, und kurz darauf ein Geländewagen. Starthilfe ist inzwischen schon Routine. In Murghab, dem nächsten Ort, bekomme ich keine passende Batterie aufgetrieben, also kaufe ich in der Not eine beliebige, die künftig zur Starthilfe dienen soll. Da ich meine Autobatterie jedoch fortan nachts abklemme, bleibt mein Ersatzmodell letztendlich unbenutzt.

Zu kämpfen hat Fred einige Tage später noch mal auf knapp 4.000 Metern Höhe: Als guter alter Dieselmotor orgelt er ordentlich beim Anlassen, bewegt sich aber doch fort und bringt uns wohlbehalten bis nach Osch. Hier, kurz vor der kirgisischen Grenze, sind wir am kritischsten Ort unserer Reise. Die Nächte werden verdammt kalt und es ist nur eine Frage der Zeit, bis hier der erste Schnee fällt. Vor uns liegt der letzte, gefürchtete Kyzyl-Art-Pass und ein Abschleppen über die Grenze ist nicht möglich, falls Fred uns erneut im Stich lässt. Von Duschanbe sind wir außerdem bereits knapp 800 Kilometer und zahlreiche Tage des Fahrens entfernt.

Über Wochen im Nichts

Die Erinnerungen an diese Zeit im Pamir-Gebirge halten mich selbst Wochen danach noch in Atem. Begegnungen, Landschaften, Hoch- und Tiefpunkte haben einander gejagt und sind zuletzt wie Regen auf die übervolle Erde gefallen, haben Rinnsale gebildet und sind davon geflossen. Jetzt aber erinnere ich mich schon nicht mehr an alles, wenngleich ich weiß, dass die fließenden Rinnsale tiefe Spuren hinterlassen haben.

Für mich ist das Reisen oft kein bewusster Prozess. Natürlich sind Lernen und Wissen essentielle Bestandteile dieses Unterfangens, was aber noch viel wichtiger ist, ist das Fühlen. Mit allem, was man erlebt und sieht – und diese Vielfalt an Eindrücken kann kein Kopf dieser Welt allumfassend verarbeiten – entwickelt man ein Bauchgefühl. Man versteht, wie Länder und Menschen sowie ihre Kulturen und Systeme funktionieren, ohne zu verstehen, woher dieses Verständnis kommt.

Auf dem Pamir Highway habe ich vor allem eines gefühlt: Wie es ist, ganz weit weg zu sein. Bereits in Khorog, der größten Stadt der Gegend, war die medizinische Versorgung beispielsweise so mangelhaft, dass es in keinem der zahlreichen Krankenhäuser möglich war, nach einem tierischen Zwischenfall eine Tollwutimpfung zu bekommen. Außerdem ist der Netzempfang für das Mobiltelefon bereits dort eingeschränkt und außerhalb der Stadt meistens nicht existent.

Über Tage hinweg reisen wir im Netz-Nirgendwo ohne Kontakt zur Außenwelt und plötzlich werden die Tage ganz langsam. Was zählt, sind Ort und Gegenwart, welche aus atemberaubenden, weiten Landschaften, schneebedeckten Bergen, breiten Flüssen oder heißen Quellen bestehen. Vor allem ist die Gegenwart aber eines: Still.

Die Ruhe, die hier so allumfassend ist, dass sie in den Ohren dröhnt, lässt Gedanken zu, sie lässt Krisen und Frieden zu. Die Stille bietet Raum, sie bietet Platz, um eine innere Unruhe gehen zu lassen, die sonst mit der Welt mitzuhalten versucht. Gleichzeitig bietet sie Platz für Angst und Anlass auch, da jeder Fehler in dieser Weite verhallen kann, ungehört. Ein Menschenschicksal scheint hier weitgehend irrelevant zu sein, im Kleinen und im Großen. In dieser großen Stille bin ich Nichts. Klein, geerdet und ganz weit weg komme ich dadurch in einen ganz neuen Kontakt mit einer Welt, die ich nicht kannte.

Maria Glaser

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