Im 8.September vor 75 Jahren begann die Blockade der Stadt Leningrad durch Hitlers Wehrmacht. Die Belagerung dauerte 900 Tage und kostete über eine Millionen Menschen das Leben. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) in Berlin hat am 6. September eine Podiumsgespräch mit den Zeitzeugen veranstaltet, um an den Jahrestag zu erinnern.
„Wir waren ein Jahr lang keine Kinder. Wir waren – ich weiß nicht, wer wir waren – Roboter waren wir. Wir dachten nur daran, dass es warm sein, und wenigstens ein bisschen was zu essen geben muss, damit wir nicht einfach an diesem entsetzlichen Hunger sterben. Widergeben, was wir erlebt haben kann man nicht. Was ich ihnen erzähle bleibt eine Erzählung. Sich all das nur vorzustellen, ist unmöglich“.
Mit diesem Zitat von Irina Kuriewa, die als vierjähriges Kind die Leningrader Blockade überlebt hat, begann Frau Dr. Zemskov-Züge ihren Vortrag beim Podiumsgespräch in Berlin zum 75. Jahrestag der Blockade. Mit den Worten Irina Kurievas machte sie klar, dass das Erlebte so schrecklich war, dass es unvorstellbar für diejenigen sein muss, die nicht dabei waren.
In seiner Begrüßung wieß der Vorstandsvorsitzende der Stiftung EVZ Dr. Andreas Eberhardt darauf hin, dass es innerhalb der deutschen Erinnerungskultur immer noch schwer falle, den Blick nach Osten zu richten und das Ausmaß des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges zu begreifen. Anschließend erklärte er, wie der Zweiter Weltkrieg im Westen betrachtet wurde: „Der Zweite Weltkrieg war, das hat der Bundestag offiziell festgestellt, ein völkerrechtswidriger und verbrecherischer Angriffskrieg, und spätestens mit dem Überfall auf die Sowjetunion wurde er ein Vernichtungskrieg und der von Hitler beschworene totale Krieg. Viele von uns erinnern sich heute noch daran, welche gesellschaftliche Reaktion die sogenannten Wehrmachtausstellungen ausgelöst haben. Hier wurde gezeigt, dass es nicht nur den verbrecherischen Holocaust gab, sondern neben dieser geplanten Vernichtung von europäischen Juden, auch unzählige weitere Verbrechen von den Deutschen begangen wurden. Und das hauptsächlich in Osteuropa, in damaligem Gebiet der Sowjetunion. Die ungeheure Zahl der Opfer, etwa 27 Mio. Menschen, ist man sich in der Bundesrepublik bis heute nicht wirklich bewusst. Die Mehrheit dieser 27 Mio. Opfer waren Zivilisten. Daher glaube ich, es ist angemessen, ja eine Verpflichtung uns dieser zu erinnern. Mit dieser Veranstaltung zu Leningrader Blockade wollen wir das tun“.
Anschließend berichtete die Zeitzeugin Irina Burghard von ihren Erinnerungen. Sie lebte ein Jahr unter der Blockade mit ihren Eltern. Sie war vier Jahre alt, als die Blockade begann und so berichtet sie aus Perspektiven eines vierjährigen Kindes von ihren Erlebnissen: „Ich war vier Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht am 8. September die Stadt völlig blockiert hatte. Eines Tages kam Vater nach Hause und sagte meiner Mutter, dass sie für alles Geld, haltbare Lebensmittel einkaufen sollte. Dann stellte er auf einem Zettel die Liste mit allen Lebensmitteln zusammen, die wir hatten, und rechnete, wie lange wir noch damit leben könnten. Ohne diese Vorbereitung hätten wir die Belagerung vielleicht nicht überlebt. Bald begannen viele Menschen zu verhungern. Wir aßen Tage lang nur Kartoffeln, wenn es in der Stadt kein Brot gab. So schlecht versorgt starben im ersten Hungerwinter viele an Entkräftung. Mein Vater hat dann seine silberne Uhr für einen Sack Kartoffel ausgetauscht und gab uns nur drei Stück Kartoffel pro Tag. So haben wir den Hungerwinter überlebt. „Im April kam ich vom Kindergarten nach Hause zurück und ich sah eine Leiche liegen, die einige Tage dort lag. Bald gab es Gerüchte, dass man seine Arme abgeschnitten hat und unsere Nachbarn sagten, dass die Polizei in jedes Haus gehe, und nach abgeschnittenen Händen suchte. Doch nach kurzer Zeit kam es raus, dass niemand sein Hand gekocht hat.
Unsere Nachbarn starben nacheinander. Einer von ihnen, Ljoscha hatte ein Katze, Anfang November fand er kein Fütter für sie, so hat er die Katze geschlachtet, um aus ihren Fleisch etwas zu kochen. Doch auch er war schon so entkräftet, dass er seine Katze nur kurze Zeit überlebte. Meine Eltern hatten da bereits begriffen, dass wir den zweiten Winter nicht überleben würden. Wir haben alles verkauft, es blieb nichts mehr übrig. 1942 hat mein Onkel, ein Arbeiter in Militärfabrik, uns besucht. Er war in den letzten auch er war dem Tod durch Verhungern nah. Nach einer Woche starb er und seine Leiche lag drei Tage im dunklen Flur unserer Wohnung. Mutter hatte ihn mit einem weißen Handtuch zugedeckt. Ich musste immer durch diese Flor hindurch gehen. Noch heute graust es mir vor dunklen Räumen. Man evakuierte uns durch den Ladischsee. Als wir von Bord des Schiffes gingen, starker Regen und ich konnte den großen Regenschirm nicht öffnen. Und Ich öffnete ein kleines weißes Regenschirmchen, damit hat mich meine Mutter in diesem Menschenchaos gefunden. Vielleicht, hätte ich den schwarzen geöffnet, hätte mich meine Mutter nicht wieder gefunden. Seitdem ist der Regenschirm für mich ein Symbol für Rettung. Ich male in meinen Bildern immer Regenschirme.“
Am Ende des Gesprächs fügte Dr. Zemskov Züge hinzu: „Bis Mitte November konnten Lebensmittel mit dem Schiffen in die Stadt gebracht werden. Aber im Winter gefror das Meerwasser, worauf eine Eisstraße über Laduger See eingerichtet wurde, um Menschen aus der Stadt zu evakuieren. Diese war aber extrem gefährlich. Die Eisstraße wurde oft beschossen. Allein im ersten Kriegswinter gingen 1000 Lastwagen wegen Eisbrüche unter Wasser. Deswegen wird sie die Straße des Lebens und die Straße des Todes genannt“.
Irina Kuriewa hat das Grauen überlebt. 1968 lernte sie den Ostberliner Bruno Burghard in Pushkin beim Ski-Fahren kennen. Sie heirateten und er bekam eine Stelle in Moskau. Später ist sie dann mit ihm und dem gemeinsamen Sohn nach Deutschland gezogen. Später bekam sie noch eine Tochter und hat mittlerweile vier Enkel.