Die Stadt Ust-Kamenogorsk liegt im Osten des Landes und ist Hauptstadt des Verwaltungsbezirks Ostkasachstan. 300.000 Menschen, mehrheitlich mit russischen Wurzeln, leben in der Stadt, die ein Zentrum des Bergbaus und der Metallverarbeitung ist. Menschen mit deutscher Herkunft belegen in der heute stark industriell geprägten Stadt nach den Kasachen allerdings bereits den dritten Platz.

Trotz der industriellen Prägung und den zahllosen riesigen, seelenlosen Wohnblöcken aus grauem Beton, die hier wie in allen sowjetischen Städten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuhauf hochgezogen wurden, hat sich die Stadt in ihrem Zentrum einen gar romantischen Charme alter Zeiten bewahrt. Zahlreiche alte Backsteingebäude im russischen Stil aus vorrevolutionärer Zarenzeit sind erhalten geblieben und versprühen den Hauch des Kaufmannslebens des 19. Jahrhunderts. Auch viele schattige Parkanlagen und Grünflächen laden in der Sommerhitze zum verträumten Schlendern und Verweilen ein.

Zar Peter der Große gab im frühen 18. Jahrhundert die Order für eine Expedition entlang des Flusses Irtysch bis zum See Saissan, der im Osten des Landes bis an die Grenze mit China heranreicht. Es oblag dem Major Iwan Wassiliewitsch Licharew, die Expedition zu leiten und in diesem Gebiet nach Gold zu suchen. Am Zusammenfluss der Flüsse Irtysch und Ulba entstand in diesem Zuge eine Festung und eine Poststation mit dem Namen Ust-Kamennaja, was übersetzt so viel wie „Steinhaufen am Zusammenfluss“ bedeutet.

Genau diese Stelle ist heute im Zentrum der ehemaligen Festung und heutigen Großstadt Ust-Kammenogorsk als Strelka bekannt. Heute befindet sich an dieser Stelle ein Denkmal zu Ehren des Großen Vaterländischen Krieges und von der Spitze der Befestigung aus bietet sich ein herrlicher Blick über den Zusammenfluss der beiden Flüsse Irtysch und Ulba. Den kasachischen Namen Öskemen nahm die Stadt im Jahr 1993 an, seitdem haben beide Versionen einen offiziellen Status.

Sehnsuchtsort für Bergsteiger

Doch für alle diese interessanten, historischen Dinge haben viele Menschen kaum ein Auge. Was die Leute, Touristen aus aller Welt und Reisende aus Nah und Fern, hier her treibt, ist die Nähe zum Altaigebirge. Die ersten Hügel der Gebirgskette, die sich durch die Länder Kasachstan, Russland, China und die Mongolei schlängelt, sind bereits vom Stadtzentrum aus zu erblicken, die Stadt liegt nur circa 100 Kilometer von der russischen und etwa 250 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt. Im Osten der Region Katon-Karagai treffen die Grenzen Chinas, Russlands und Kasachstans aufeinander, die Grenze zur Mongolei trennt dort nur ein wenige Kilometer breiter Streifen. Jeder, der den kasachischen Teil des Altai erkunden oder eine Bergtour auf einen der oft über 4.000 Meter hohen Gipfel unternehmen möchte, beginnt sein Abenteuer in Ust-Kamenogorsk.

Sehnsuchtsort für viele Bergsteiger ist dabei der Berg Belucha, der auf der Grenze zwischen Kasachstan und Russland liegt und dessen Doppelspitze mit 4.400 sowie 4.506 Metern den höchsten Punkt des gesamten Altai darstellt. Die Erstbesteigung durch die Brüder Boris und Michail Tronow fand erst im Jahre 1914 statt. Für die lokale Bevölkerung, die oft noch heute nach jahrhundertealten, heidnischen Bräuchen und Riten lebt und verschiedenste Naturgötter verehrt, verbietet sich allerdings eine Besteigung des Berges.

Berggipfel sind Heiligtümer und Gottheiten, die selbstverständlich nicht bestiegen werden dürfen. Menschen, die entweder stets darum bemüht sind, die örtlichen Bräuche und Riten zu respektieren, oder denen eine Besteigung des Gipfels des Belucha schlichtweg als zu anstrengend und zu gefährlich erscheint, können immerhin versuchen, aus der Ferne einen Blick auf die Doppelspitze des Belucha zu erhaschen. Ein Gebet an die Naturgötter wäre dabei jedoch in jedem Falle angebracht, da sich der Berg oft tagelang hinter dichtem Nebel versteckt.

Altai – Urheimat der Turkvölker?

Überhaupt passiert in dieser nur sehr dünn besiedelten Region des Altai viel Mystisches und Legendäres… So verweist beispielsweise ein sich auf alte chinesische Quellen stützender Mythos, die sogenannte Arsena-Legende, auf die Region Altai. Die Legende erzählt von einem Stamm, der einem Massaker zum Opfer fällt. Nur ein einziger kleiner Junge überlebt und wird von einer Wölfin in einer Höhle mit reicher Vegetation in den Bergen nordwestlich von Kao-ch’ang aufgezogen. Der Junge wächst heran, vereinigt sich mit der Wölfin, woraus zehn Jungen hervorgehen, und nimmt Rache an jenen, die seinen Stamm vernichtet haben.

Die Berge nordwestlich von Kao-ch’ang sind uns heute als das Altaigebirge bekannt. Der Wolf wiederum ist ein Symbol, welches übergreifend bei zahlreichen Turkvölkern als Totemtier und Ahne verehrt wird. Die Arsena-Legende gilt als der Ursprungsmythos der Türken. Aber auch wissenschaftlich betrachtet ist an der Geschichte etwas dran. So wird die Urheimat der Turksprachen tatsächlich im Altai vermutet.

Sprachwissenschaftlich ist von den Altaischen Sprachen die Rede, die sich in die drei Sprachfamilien der Mongolischen, der Tungusischen und der Turksprachen aufteilt. Die Turksprachen machen dabei mit 41 Standardsprachen, darunter die zentralasiatischen Sprachen Kasachisch, Kirgisisch, Usbekisch oder Turkmenisch, und circa 180 bis 200 Millionen Sprechern heute den bei weitem größten Teil der Altaischen Sprachen aus. Der Altai kann also durchaus als der Ort bezeichnet werden, von welchem sich die Turksprachen in die Welt ausbreiteten.

Beeindruckende Naturwunder

Auch ich möchte diese Region erkunden und mache mich so auf den Weg entlang der Expeditionsroute von Major Iwan Wassiliewitsch Licharew von der Strelka in Ust-Kamenogorsk entlang des mächtigen Stromes Irtysch bis zum Ufer des Sees Saissan. Früh am Morgen überquere ich noch im Stadtzentrum den Irtysch und bewege mich nun stetig Richtung Südosten. Eine weite Strecke muss an diesem Tag zurückgelegt werden, doch auch einige der zahlreichen herrlichen Naturwunder der Region gilt es zu besichtigen.

Der Irtysch übrigens, der im chinesischen Teil des Altai entspringt, ist ein Nebenfluss des Ob und gilt mit einer Länge von insgesamt 4.248 Kilometern als längster Nebenfluss der Erde. Der mächtige Strom fließt, aus China kommend, auf kasachischer Seite in den See Saissan, wird dann durch den Buchtarma-Stausee aufgestaut, trifft in Ust-Kamenogorsk auf den Fluss Ulba und tritt bei Semej in die weiten Steppen Kasachstans ein. Der Irtysch durchfließt daraufhin das Westsibirische Tiefland und passiert auf russischer Seite die Großstadt Omsk. Bei Tobolsk nimmt er den Fluss Tobol auf und mündet schließlich bei der Stadt Chanty-Mansijsk in den Ob.

Mit einer alten Rostlaube zum anderen Ufer

Noch am frühen Vormittag ist der Buchtarma-Stausee erreicht. Im Jahr 1953 begann der Bau des Buchtarma-Wasserkraftwerks in der Nähe des kleinen Städtchens Serebrjansk. Aus diesem Grunde wurde der Irtysch hier mittels eines Damms aufgestaut. Als Resultat entstand der Buchtarma-Stausee. Dieser ist zwar künstlich entstanden, allerdings heute aufgrund seiner zerklüfteten Buchten und abstrakten Felsformationen ein beliebtes Ausflugsziel. Die Fahrt geht weiter, jetzt immer Richtung Süden.

Die Landschaft hat sich inzwischen schon wieder vom satten Grün der Region Altai zu der staubigen, vegetationslosen und tristen Mondlandschaft der kasachischen Steppe entwickelt. Die Sonne brennt zur Mittagszeit vom Himmel herab. Bei dem Dorf Kazanowka muss wiederum das Ufer des hier bedeutend breiteren Irtysch überquert werden. Eine alte, rostige Fähre mit dem Namen „Kurshym“ steht bereit. Die alte Rostlaube legt gemächlich vom Ufer ab und schippert gemütlich über den breiten Fluss. Auf der anderen Seite warten noch einmal einige Stunden Fahrt auf einer alten Bundesstraße auf mich.

Ein See von biblischem Alter

Es ist bereits Abend geworden und es beginnt zu dämmern. Es wird alles daran gesetzt, das Ufer des Saissan-Sees noch vor Sonnenuntergang zu erreichen. Die Bundesstraße haben wir schon lange hinter uns gelassen, inzwischen geht es querfeldein, immer entlang zweier ausgetrockneter, staubiger Reifenspuren. Doch in der Ferne ist das Wasser glitzernd in der Abendsonne zu erkennen. Der Saissan ist 105 Kilometer lang und an seiner breitesten Stelle 48 Kilometer breit, trotzdem nur maximal 15 Meter tief.

Die Besonderheit des Sees allerdings ist sein biblisches Alter, er besteht seit der Kreidezeit und gilt mit einem geschätzten Alter von circa 70 Millionen Jahren als der älteste See der Welt! Ich schaffe es, mein Zelt und meinen Schlafsack noch vor Einbruch der Dunkelheit auszuladen und meinen Schlafplatz für die Nacht vorzubereiten. Man soll sich hier am staubigen Ufer des Saissan-Sees vor Skorpionen und Giftschlangen in Acht nehmen. Schnell wird allerdings ein anders Problem offensichtlich: Stechmücken! Unzählige, schmerzhafte Stiche muss ich hinnehmen, noch bevor ich die Taschenlampe ausschalten und Schutz unter dem Mückennetz meines Zeltes finden kann. Zum sanften Rauschen der Wellen des nahen Sees falle ich an diesem Abend in einen tiefen Schlaf…

Philipp Dippl

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