Die Berge, eine weite Wiesenlandschaft, darauf grasende Pferde und ein paar Jurten – die Zutaten für das perfekte Klischeebild von Kasachstan. Doch was verbirgt sich hinter der idyllischen Oberfläche? Die Frage nach der nationalen Identität ist selbst für viele Kasachstaner nicht leicht zu beantworten. Ein unabhängiges Kasachstan gibt es schließlich erst seit 1991. Die Galerie der Stiftung des ersten Präsidenten der Republik Kasachstan gab die Frage schließlich an die Künstler des Landes weiter. Die besten Antworten hängen in der Ausstellung „Die nationale Idee in der Malerei“ – auf Leinwand und in Farbe.
/Bild: Andrea Rüthel. ‚Das kasachische Ornament hat eine lange Tradition, ist aber zeitlos schön anzusehen. (Keramik-Komposition, Venera Urasbekowa)’/
20 Jahre sind eine kurze Zeit. Ein unabhängiges Kasachstan gibt es noch nicht lange. „Es ist schwer zu sagen, ob in Kasachstan seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion überhaupt schon so etwas wie eine nationale Idee entstanden ist – aber klar ist, dass unser Land sie dringend braucht“, sagt Irina Mota, eine der Kuratoren der Ausstellung „Die nationale Idee in der Malerei“. Die junge Frau im blauen Kostüm hat die 30 Jahre selbst wahrscheinlich noch nicht überschritten. Sie ist – wie auch viele der ausstellenden Künstler – eine selbstbewusste Vertreterin der Generation, in deren eigener Lebenserfahrung die sowjetische Geschichte nur den geringsten Teil ausmacht.
Hell und großzügig drehen sich die Gänge der Galerie im Dachgeschoss des weitläufigen Gebäudes als Spirale gen Himmel. Es ist zu spüren, dass in die Kunst Geld geflossen ist – und das von oberster Stelle: Die Ausstellung ist ein Projekt der Galerie der Stiftung des ersten Präsidenten der Republik Kasachstan. „Wir glauben, dass die Kunst bei der Bildung einer nationalen Identität eine mächtige Rolle spielt. Deshalb haben wir die Frage an unsere Künstler weitergegeben: Was ist das eigentlich, Kasachstan? Was bedeutet es, Kasachstaner zu sein?“, sagt Irina Mota.
Familie, Natur, Tradition – Kontinuität durch Kunst
Eine nationale Identität über die Kunst zu schaffen – das ist eine Idee, die im letzten Jahrzehnt auch andere ehemalige Sowjetstaaten verfolgten. Besonders gut geht das offenbar in der Architektur: Die Litauer rekonstruierten bis zur 1.000-jährigen Erstnennung des Landes 2009 die Untere Burg in Vilnius. Die Kiewer bauten das Kloster St. Michael wieder auf, das Mitte der 1930er Jahre einem Wahrzeichen der stalinistischen Machthaber hatte weichen sollen. Sogar die Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau, deren Standort zu „gottloseren“ Zeiten noch als Schwimmbad herhalten musste, stellt nun goldglänzend die russisch-orthodoxe Kirchentradition zur Schau – und das ganz in der Nähe des Kremls. Die Prachtbauten sollen beweisen, dass die starken Nationaltraditionen selbst die Sowjetzeit überdauert haben.
Auch in Kasachstan ist das identitätsstiftende nationale Symbol Nummer Eins ein Wohnraum: die Jurte. Zumindest findet sie sich in der Ausstellung „Die nationale Idee in der Malerei“ fast auf jedem dritten Bild. Andere Arbeiten zeigen schöne Frauen in farbenfroher Tracht, schnittige Reiter im Kampf oder die engen Bindungen innerhalb der kasachischen Familie. Neben der Suche nach dem „Eigenen“ blitzen jedoch auch die Einflüsse der europäischen Kunsttradition auf: Nur stehen im Zentrum des Stilllebens der Künstlerin Anara Abschanowa nicht der barocke Totenkopf mit Weinkelch, sondern ein reich verzierter Bottich, angefüllt mit dem kasachischen Nationalgetränk Kumys.
Kasachische oder kasachstanische Kunst?
„In Kasachstan leben heute rund 130 Nationalitäten. Deshalb wird auch in der Sprache streng zwischen Kasachen und Kasachstanern unterschieden“, sagt Irina Mota. Aber auch anhand der Bilder könne sie unterscheiden, was ein „Kasache“ gemalt habe, und was ein „Kasachstaner“. Irina Mota zeigt auf eine Ornamentstudie. „Das ist eine kasachische Arbeit.“ Tatsächlich sind die Motive der weitaus weniger stark vertretenen russischen Maler kaum traditionsbezogen: Die mystischen Grafiken oder Landschaftsmalereien sind – im Gegensatz zu den Huldigungen an die kasachische Großfamilie – meist völlig menschenleer.
Ob Irina Mota ein Lieblingsbild in der Ausstellung habe? Mehrere, sagt sie. Die großformatigen Abstraktionen von Nurschan Sautbekow haben es ihr angetan. Und für Irina Mota hat sogar die Nicht-Gegenständlichkeit eine kasachstanische Wurzel: Als Fortsetzung des Schamanismus.
Der junge Künstler Nurschan Sautbekow selbst steht im Erdgeschoss und betrachtet ein breitformatiges Motiv der schon bekannten Art: Eine Berglandschaft, heimkehrende Reiter und Jurten. Die Überraschung: Das kleine Etikett am Bildrahmen zeigt seinen eigenen Namen.
Abstrakt und gegenständlich – warum er zwei so unterschiedliche Stile verfolge? Nurschan Sautbekow lächelt und zuckt mit den Schultern: Sein Herzblut hänge zwar an seinen Farbkompositionen. „Aber die Jurten verkaufen sich eben besser.“
Von Andrea Rüthel
16/04/10