Die verheerenden Bilder von Gewalt und Zerstörung vor allem in Almaty sendeten vergangene Woche Schockwellen durch ganz Kasachstan. Welche Folgen haben die Ereignisse für die geschätzt 180.000 Angehörigen der deutschen Minderheit im Land? Darüber haben unsere Kollegen vom Wochenblatt in Polen und wir mit Jewgeni Bolgert, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Gesellschaftlichen Stiftung „Wiedergeburt“ in Kasachstan, gesprochen.
Herr Bolgert, wie haben Sie persönlich die Proteste und Auseinandersetzungen in der vergangenen Woche erlebt und wahrgenommen?
Die friedlichen Proteste im Westen Kasachstans habe ich mit Verständnis aufgenommen. Es ist das Recht der Bürger, ihre Position zu wichtigen und sensiblen Themen – in diesem Fall sozioökonomischer Natur – zu äußern. Dabei erfolgte recht schnell eine Reaktion der Staatsführung auf die Forderung nach Preissenkungen für Flüssiggas. Die Regierungskommission konnte hier einen Kompromiss erzielen.
Alles, was danach geschah, vor allem in Almaty, war allerdings ganz anderer Natur. Innerhalb weniger Stunden wandelte sich die Situation von einer friedlichen Kundgebung hin zu Zusammenstößen und Angriffen. Dies führte zu einer Tragödie, die von Ausschreitungen, Plünderungen und leider auch menschlichen Opfern geprägt war. Das sage ich aus voller Überzeugung, denn durch Zufall war ich all die Tage in Almaty.
Welche Rückmeldung haben Sie von der lokalen Gesellschaft der „Wiedergeburt“ in Almaty erhalten? Wie war bzw. ist dort die Lage?
Wir standen in ständigem Kontakt mit unserer lokalen Gesellschaft in der Stadt. Zum Glück ist weder einem Mitarbeiter noch dem Deutschen Haus etwas zugestoßen.
Welche Auswirkungen hat der derzeitige Ausnahmezustand auf die tägliche Arbeit der „Wiedergeburt“ und ihrer lokalen Gesellschaften?
Die Situation ist von Region zu Region unterschiedlich. Wo es nötig war, wechselten die Kollegen aus Sicherheitsgründen natürlich ins Homeoffice. Irgendwie ging und geht die Arbeit weiter; insbesondere das Kasachisch-Deutsche Zentrum in der Hauptstadt arbeitet wie gewohnt.
Sie sind bereits auf die Plünderungen und Zerstörungen eingegangen, die sich vergangene Woche gegen zahlreiche Läden und Geschäfte richteten. Inwiefern waren hiervon auch Kasachstandeutsche betroffen?
Innerhalb unserer Stiftung „Wiedergeburt“ gibt es einen Business-Club. Meine Kollegen und ich haben die Situation über unser Kontaktnetzwerk beobachtet. Glücklicherweise waren die Unternehmen und Handelsobjekte der Mitglieder des Clubs nicht wesentlich betroffen. Gleichzeitig haben wir uns bemüht, unsere Unternehmer darüber zu informieren, wo sie, wenn nötig, Unterstützung erhalten können – und daran arbeiten wir auch weiterhin.
Was bedeuten die Proteste und Auseinandersetzungen für die deutsche Minderheit in Kasachstan? Welche Folgen sind denkbar?
In Kasachstan lebende Deutschstämmige sind ein Teil der Gesellschaft. Wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger spüren auch sie alles, was im Land passiert, an sich selbst. Die Deutschen in Kasachstan hatten in diesen schweren Tagen Mitgefühl mit den Opfern. Unsere Werte waren und bleiben Einheit und Harmonie, Frieden und Schaffenskraft. Deshalb unterstützt unsere Selbstorganisation die Entscheidungen und Reformvorschläge von Präsident Kassym-Schomart Tokajew und fordert unsere Landsleute auf, zusammenzurücken.
Halten Sie es für möglich, dass die angespannte Lage in Kasachstan auch zu Nationalitätenkonflikten führt? Wie kann der Staat hier gegensteuern?
Bei den jüngsten Ereignissen gab es keinen interethnischen Kontext. Vielmehr sind sich alle ethnokulturellen Vereinigungen der im multinationalen Kasachstan lebenden Völker einig darin, wie wichtig ein konstruktiver Dialog und eine Konsolidierung der Gesellschaft sind. Nur so können wir die Folgen der Januar-Ereignisse überwinden und zu einem normalen Leben zurückkehren. Das haben alle Vorsitzenden der ethnokulturellen Vereinigungen, die zur Plattform der Volksversammlung Kasachstans gehören, offen zum Ausdruck gebracht.
Rechnen Sie nach den Ereignissen mit einem verstärkten Ausreisebedürfnis der deutschstämmigen Bevölkerung in Kasachstan nach Deutschland?
Ich denke und glaube, dass es keinen Migrationsschub bei der deutschen Gemeinschaft geben wird. Vor allem, weil die angekündigten Reformen von Präsident Tokajew darauf abzielen, einen großen Komplex sozioökonomischer Probleme zu lösen, die unsere Bürger betreffen. In jedem Land gibt es schwierige Zeiten. Ich bin sicher, dass Kasachstan sie überwinden kann. Sollte sich aber dennoch jemand dazu entschließen zu gehen, wird das niemand verurteilen.
Wie beurteilen die Kasachstandeutschen den Einsatz im Rahmen der OVKS-Mission und insbesondere die Präsenz russischer Truppen in Kasachstan?
Ausschließlich als kurzfristige Friedensmission. Lassen Sie mich darauf hinweisen, dass das Kontingent der OVKS aus Truppen aller teilnehmenden Länder besteht.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Lucas Netter, ifa-Redakteur beim Wochenblatt in Oppeln (Polen). Übersetzung und Redaktion: Christoph Strauch, ifa-Redakteur bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung (Kasachstan)