Am 18. Mai 2007 wurde der Sammelband „Zentralasien: Eine Innenansicht“, „Öåíòðàëüíàÿ Àçèÿ: Ñîáñòâåííûé Âçãëÿä“ im Beisein der Autoren Tschingis Aitmatow, Dosym Satpajew, Suchra Madamidschanowa und Rafik Saifulin in Berlin präsentiert. Der Band entstand in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Reinhard Krumm, der Regionalkoordinator der FES für Zentralasien, ist der Herausgeber des Buches, in dem ausschließlich einheimische Experten und Wissenschaftler über ihre Heimat berichten.

Im Buch schreiben die Autoren aus Tadschikistan, Usbekistan, Kirgisistan und Kasachstan Essays über Geschichte, Politik und Wirtschaft in ihren Ländern. Die Experten und Wissenschaftler, welche zu Wort kommen, streben eine fundierte Analyse an. Am Ende des Buches kommentiert Reinhard Krumm die zentralasiatischen Sichtweisen aus europäischer Perspektive und fordert die Unterstützung der Zivilgesellschaft in der Region. DAZ-Autor Ulf Engert sprach mit Elvira Pak, der Leiterin des Almatyer Büros der FES.

Was ist die Idee des vorliegenden Buches, und warum sind ausschließlich einheimische Experten und Wissenschaftler zu Wort gekommen?

Das Bild Zentralasiens und seiner Völker wurde fast ausschließlich von Fremden (von Johannes de Plano Carpini, Wilhelm von Rubruk und Marco Polo bis Martha Brill Olcott und Beate Eschment und Marie von Gumppenberg), also von Menschen geprägt, die nicht in dieser Region verwurzelt waren oder nur temporär hier gelebt haben. Dieser Art der Außenbeschreibung, besonders dem russischen und sowjetischen Blick auf die mittelasiatische Region, sollte eine Innenansicht auf Zentralasien und seine neu entstandenen Republiken gegenübergestellt werden.

Haben ihre Institution und die zentralasiatischen Regierungen bei diesem Projekt zusammengearbeitet?

Wir wollten gern mit Spezialisten und Insidern zusammenarbeiten, die objektiv über die Situation in ihren Ländern berichten. So waren wir in unseren Handlungen frei und mussten keine Zugeständnisse an die Behörden machen.

Welche Berührungspunkte bestehen trotz ihrer verschiedenen Nationalitäten zwischen den Autoren?

Den Autoren ist eines gemeinsam, sie nutzen erstmals die Möglichkeit, etwas über ihre Heimat auszusagen, ohne dass sie von ausländischer Seite zensiert oder kritisiert werden. Die Bevormundung durch das zaristische Russland und dann durch die Sowjetunion ließ fast keine zentralasiatische Geschichtsschreibung zu. Es kam zu der uns bekannten Glorifizierung der russischen und sowjetischen Kolonisierung Zentralasiens.

Inwieweit war es schwierig, Autoren, die unabhängig über die Situation in ihrem Land berichten, zu finden?

Bis auf einzelne Ausnahmen gab es keine Probleme, da wir über ein gutes Netzwerk von Wissenschaftlern und Experten verfügen, welches sich in der postsowjetischen Ära neu konstituiert hat. Außerdem sind viele Experten über weitere Projekte der FES miteinander vernetzt. Jedoch war es etwas schwieriger, usbekische und tadschikische nicht politisch engagierte Wissenschaftler und Experten zu finden, da sich in diesen Ländern die politische Situation etwas schwieriger gestaltet.

Warum scheiterte die Zusammenarbeit mit der turkmenischen Seite?

Das Problem war, dass sich zu Lebzeiten von Turkmenbaschi, dem damaligen Präsidenten Turkmenistans, niemand traute, objektiv zu schreiben. Die Verbindungen nach Turkmenistan brachen Ende der 90er Jahre ab. Viele Experten sind im Ausland und die im Inland Verbliebenen Intellektuellen und Wissenschaftler leben in einem Klima der Angst. Niemand konnte oder wollte objektiv berichten. Sogar das in Almaty ansässige kasachische Institut für strategische Studien hat keinen Kontakt zu Experten aus Turkmenistan.

Wie unterscheidet sich die Selbstwahrnehmung der zentralasiatischen Völker von der der einheimischen Experten?

Zentralasien lag an der Peripherie der Sowjetunion und galt im Gegensatz zum Baltikum, der Ukraine und Weißrussland nur als Reservoir für Energie- und Rohstoffe, somit wurden auch nur selten Zugeständnisse von russischer Seite an die jeweiligen asiatischen Ethnien gemacht. Eine Ausnahme war die Bevorzugung der Usbeken im Afghanistankrieg, da ein Übergreifen des Konflikts auf das bevölkerungsreiche Usbekistan befürchtet wurde. Jedoch bot sich mit Beginn der Perestroika die Gelegenheit einer Identitätssuche jenseits sowjetischer Normen und Werte. Leider trieb dies aber nicht nur Blüten innerhalb einer objektiven Bewertung der nationalen Geschichte; es kam zur übertriebenen Selbststilisierung und Mythologisierung der eigenen Nation, deren Herkunft und Zukunftsaussichten. Ziel des Bandes hingegen war, die von außen aufgeprägte Sichtweise und die rein nationalistischen Perspektiven zu relativieren. Was aber nicht heißen soll, dass die nationalen Eigenheiten ausgeblendet wurden.

Spielten neben diesen Punkten noch andere wichtige Faktoren, wie zum Beispiel die Vernetzung von Expertenwissen, eine Rolle?

Mit der neugewonnenen Unabhängigkeit der zentralasiatischen Republiken verschwanden die Nachbarstaaten aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Man sah sich zunehmend mit den eigenen existentiellen Problemen konfrontiert und widmete sich der Lösung dieser im eigenen Land. Hinzu kommt, dass eine gewisse Konkurrenz und Rivalität unter den Regierungen Zentralasiens herrscht und Vorurteile zwischen den Nationen immer noch existieren. Nicht nur deshalb kommen in den Medien die Nachbarländer nur selten vor. Ist dies doch der Fall, werden sie gern als Negativbeispiel benutzt, um der Bevölkerung zu suggerieren, dass im eigenen Land doch alles oder vieles besser ist als beim Nachbarn. Es sollte daher eine Annäherung von Experten und Wissenschaftlern initiiert werden, die darlegen, dass die Nationen Zentralasiens ähnlich sind, teilweise gleiche und auch grenzüberschreitende Probleme haben. Diese bedürfen einer länderübergreifenden Lösung, was aber bislang noch nicht von politischer Seite realisiert wurde. Zu nennen wäre hierfür das Wasserproblem, das den gesamten zentralasiatischen Raum betrifft und sich bei einem weiteren Wirtschaftswachstum Chinas und einer Konsolidierung der einheimischen Wirtschaftsräume noch verschärfen wird. So sinkt der Pegel des Irtysch unweigerlich weiter, wenn Chinas industrielles Potenzial künftig zunimmt. Chinas Strategie zur Beruhigung der kritischen Situation in Westchina, welches von Uiguren und anderen Turkvölkern bewohnt wird, ist eine verstärkte Industrialisierung und Sinisierung der Region. Gerade in diesem Gebiet entspringt der Irtysch. Daher sind Kasachstan und auch Russland mit unabsehbaren Folgen konfrontiert. Ähnliche Schwierigkeiten werden sich zusätzlich für Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan ergeben, wenn Kirgisistans Wirtschaft einen Aufschwung erfährt und verstärkt auf seine Wasserressourcen zugreift. Die Folgen für die Anrainerstaaten wären verheerend. Vom Drogenhandel und Terrorismus, welcher von Afghanistan aus über Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan seinen Weg findet, nicht zu sprechen.

Tschingis Aitmatow verwendet im Vorwort des Buches den Begriff Turkistan. Das kann man als einen Hinweis auf eine gemeinsame mittelasiatische Identität verstehen, welche sich über die Ländergrenzen hinwegsetzt. Ist dieser Sammelband auch als eine neue Sichtweise zu verstehen, die Zentralasien als ein ganzes aber heterogenes Gebilde betrachtet, in welchem ähnliche soziale und ökonomische Probleme auftreten, die aber nur gemeinsam gelöst werden können?

Vor allem war es unsere Idee, eine Annäherung zwischen den unterschiedlichen mittelasiatischen Nationen zu forcieren, um geistige Grenzen zwischen den Völkern und staatliche Hürden zu überwinden. Der Gedanke an eine zentralasiatische Union lag uns dabei fern. Dieser Vorschlag wurde bereits 2005 von Nasarbajew (Präsident Kasachstans) ins Spiel gebracht aber nicht weiter verfolgt. Rivalitäten, die historisch bedingt zwischen den zentralasiatischen Völkern bestehen, existieren ja immer noch. In Zeiten von zentralistischen Regimes und angespannten ökonomischen Situationen sind solche Gedanke entbehrlich. Außerdem bestehen schon einige Assoziationen, wie zum Beispiel die Zentralasiatische Kooperationsorganisation (ZK) und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), welche sich fast ausschließlich mit der Terrorismusbekämpfung beschäftigen. Ein innerzentralasiatischer wirtschaftlicher Austausch, der in der ZK angestrebt wurde, findet leider kaum statt. Nur der Handel mit Russland, Weißrussland und der Ukraine blüht. Zwar wird die Europäischen Union von einigen Führern als Beispiel für eine erstrebenswerte Konföderation gepriesen, aber dies sind nur verbale Verlautbarungen, die noch keine Folgen gezeitigt haben.

Welche Zielgruppe sprechen sie mit dem Buch „Zentralasien: Eine Innenansicht“ an?

Hauptsächlich wollen wir die Generation erreichen, die die Sowjetunion und ihr Regime nicht mehr erlebt haben. Aber auch die, die die Zeit des sowjetischen Kommunismus noch kennen, eröffnen wir eine andere Perspektive auf die neu entstandenen Nationen und ihre Geschichte. Dies soll zum einen identitätsbildend wirken und zum zweiten ein Verständnis für die Nachbarvölker schaffen. Es bietet sich hier die Möglichkeit, jungen Leuten eine vorurteilsfreie Perspektive über „künstliche“ Grenzen hinweg zu eröffnen.

Wie wurde ihre Publikation in der Öffentlichkeit aufgenommen?

Bisher haben wir nur ein positives Feedback bekommen. Besonders die Universitäten und deren Bibliotheken schätzen unsere Veröffentlichung. Wir hoffen sehr, dass wir noch weitere Menschen, nicht nur mit dieser Publikation, erreichen.

15/06/07

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