Die nachfolgende kurze Erzählung ist von dem deutschen Schriftsteller und Politologen Johano Strasser. Der ehemalige Präsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland und vielfacher Preisträger veröffentlicht literarische als auch politische Schriften, zuletzt: „Gesellschaft in Angst. Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit“ (2013); „Die schönste Zeit des Lebens“ (Roman, 2011). „Zwischenfall in Eisenach“ wurde im August 1981 in der Zeitschrift „L’80“ veröffentlicht. Sie wurde unter anderem von Johano Strasser, Heinrich Böll, Günter Grass und weiteren Literaturschaffenden herausgegeben. Strassers fiktive Handlung spielt unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung auf der Wartburg in Eisenach und enthält einige verblüffende Vorwegnahmen des tatsächlichen Geschehens, das noch mehr als acht Jahre auf sich warten ließ. Wir veröffentlichen die Kurzgeschichte mit freundlicher Genehmigung von Johano Strasser. www.johanostrasser.de

Ziemlich genau zwei Monate nach der Wiedervereinigung war es, als ich zum ersten Mal nach Eisenach kam. In Herkeshausen tagte noch die sogenannte Paritätische Kommission, die in der Übergangszeit bis zu den gesamtdeutschen Wahlen die Regierungsgewalt ausübte. Überall in Deutschland galten zwei Währungen nebeneinander: 1 Mark Ost = 1 Mark West. Die Verkehrsverbindungen zwischen den beiden ehemals selbständigen Teilen Deutschlands waren vorübergehend noch schwieriger als vorher, da der Andrang der Reisenden, wie man sich denken kann, gewaltig war und praktisch an allen Straßen, Autobahnen und Eisenbahnstrecken, die die frühere deutsch-deutsche Grenze überschritten, sich Baustelle an Baustelle reihte.

Franziska und ich flogen von München nach Berlin und fuhren von dort mit dem Zug nach Eisenach, was zwar ein beträchtlicher Umweg war, aber unter den gegebenen Umständen uns um 12 Stunden eher ans Ziel brachte, als wenn wir mit dem Zug direkt von München nach Eisenach gefahren wären. Außerdem waren wir eingeladen und brauchten die Reisekosten nicht selbst aufzubringen. Auf der Wartburg fand nämlich ein von der evangelischen und der katholischen Kirche gemeinsam veranstaltetes Symposium unter dem Titel Liebe zu Deutschland – Liebe in Deutschland statt, auf dem ich ein Referat über Liebe als politisches Problem zu halten gebeten worden war.

Als wir in Eisenach ankamen, war es schon dunkel. Wir begaben uns gleich ins Hotel, machten nach dem Essen noch einen kurzen Spaziergang durch die Innenstadt und legten uns zeitig schlafen. Am nächsten Morgen um 10 Uhr begann das Symposium. Wir fuhren mit dem Taxi zur Warburg hinauf, nahmen an der Rezeption die Unterlagen in Empfang und begaben uns in den Tagungsraum, der sich allmählich zu füllen begann. Mein Referat war für 15 Uhr angesetzt, aber da es sich um ein Symposium handelte, erwartete man, daß ich mir auch die beiden voraufgehenden Referate zum Generalthema – eines aus evangelischer und eines aus katholischer Sicht – anhörte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte ich mich nur schwer dazu durchringen können, aber die damals herrschende allgemeine Begeisterung für das Gespräch zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien hatte auch mich angesteckt, so daß mir nahezu alles, was gesagt wurde, wichtig und interessant erschien.

Nur Franziska amüsierte sich offenbar überhaupt nicht. Beim Mittagessen in der Cafeteria versuchte ein evangelischer Theologe aus Erlangen, der an unserem Tisch saß, ihr eine Stellungnahme zu den Ausführungen des Vormittags zu entlocken. Franziska sah ihn an, als sei er völlig übergeschnappt. Wieso er das von ihr wissen wolle, fragte sie mit blitzenden Augen. Ob er denn selbst keine Meinung dazu habe? Der Mann war sichtlich verstört. Doch, doch, sagte er, natürlich habe er eine Meinung dazu. Wenn es sie interessiere … Franziska unterbrach ihn. Er solle es ihr nicht verübeln, aber sie habe überhaupt kein Interesse an seiner Meinung. Sie habe mehr als genug mit ihren eigenen Ansichten und Meinungen zu tun.

Bereits zu diesem Zeitpunkt begann ich zu ahnen, daß sich zwischen Franziska und mir eine Krise anbahnte, Aber ich ließ meinen bösen Ahnungen keinen Raum. Ich holte Kaffee, bot Franziska Zucker an, obwohl ich wußte, daß sie den Kaffee schwarz trank, vermied es sorgsam, auch nur ein Wort über die Tagung zu verlieren, und da wir auf diese Weise ohne weitere atmosphärische Störungen über die Mittagspause kamen, hatte ich den kleinen Zwischenfall bei Tisch schon wieder vergessen, als ich zu meinem Referat ansetzte.

Ich hatte soeben Paul Tillichs Ausspruch, daß der Sozialismus eine „Bewegung gegen die fortschreitende Zerstörung der Liebe in der Gesellschaft“ sei, zitiert und wollte hieran anschließend einige Leitlinien einer am Grundwert der Solidarität ausgerichteten Politik des nationalen Neubeginns entwickeln, als Franziska, die in der ersten Reihe saß, aufstand, mir für einen kurzen Moment in die Augen sah und dann gemessenen Schrittes den Saal verließ. Die Art, wie sie mich angesehen hatte, bedeutete nichts Gutes. Ich war irritiert, hatte Muhe, meine Gedanken bei der Stange zu halten. Zu allem Unglück gab es auch noch eine jener lebhaften Diskussionen, die den Referenten zwingen, fortwährend zu wiederholen, was er bereits gesagt hat. Als ich endlich aus dem Saal ins Foyer trat, war es schon nach 17 Uhr. Um 19 Uhr waren wir auf einen Empfang beim Bürgermeister der Stadt eingeladen.

Wahrscheinlich war Franziska schon im Hotel. Im Tagungsbüro ließ ich mich mit unserem Hotel verbinden. Franziska war nicht da. Also war sie wohl noch unterwegs. Ich wollte gerade ein Taxi rufen lassen, um meinerseits ins Hotel zu fahren, als eine der Schreibdamen sich zu mir umdrehte und mich fragte: „Suchen Sie Ihre Frau?“ Franziska und ich waren nicht verheiratet. Aber das war jetzt nicht wichtig. „Ja“, sagte ich, „Wissen Sie zufällig, wo sie steckt?“ Sie wußte. Vor etwa einer Stunde sei sie zur Vogtei hinübergegangen, um sich das Lutherzimmer anzuschauen. Der Wärter, ein alter Mann mit Schirmmütze, zeigte mit, wo es zum Lutherzimmer ging. „Sie müssen sich beeilen“, rief er mir nach „Um sechs sperr ich hier zu.“ Ich sprang die Treppe hinauf und stand vor der richtigen Tür. Aber die war zu. Ich wollte gerade umkehren und den Wärter fragen, ob er nicht eine Dame ans dem Haus habe gehen sehen, als ich hinter der Tür ein Geräusch vernahm. „Franziska!“ flüsterte ich. „Bist du da? Mach auf, Franziska!“ Drinnen regte sich nichts. Dann nach einer Weile, während der ich unschlüssig dastand und überlegte, ob ich mich nicht doch geirrt haben konnte, wurde langsam ein Zettel unter der Tür hindurchgeschoben. Ich bückte mich, hob ihn auf und las: BITTE NICHT STÖREN. F.

Das war nun aber doch zu viel. „Franziska“, flüsterte ich nun schon ein wenig lauter. „Mach doch auf, verdammt noch mal!“ Ich begann an der Tür zu rütteln. Aber dann fiel mir der Wärter ein und ich versuchte es noch einmal mit geflüsterten Appellen.

Es half nichts. Drinnen blieb alles still. Ich sah auf meine Taschenuhr. Es war kurz vor halb sechs. Um sechs würde sie der Wärter ohnehin rausschmeißen. Bis dahin konnte ich warten. Draußen setzte ich mich auf eine Mauer und wartete. Als es sechs schlug, sprang ich auf. Jetzt mußte sie ja wohl kommen. Aber sie kam nicht. Statt dessen kam der Wärter aus dem Gebäude, sperrte die Tür zweimal ab und ging davon. Im ersten Moment wollte ich ihm nachlaufen, ihm alles erklären und ihn bitten noch einmal aufzuschließen. Schließlich konnte Franziska ja nicht die ganze Nacht in dem Gebäude zubringen. Aber dann dachte ich daran, wie peinlich die ganze Angelegenheit wirken müsse, wie sollte ich dem Mann Franziskas Verhalten erklären? Ich verstand es ja selbst nicht.

Ich wartete bis der Wärter weg war und ging dann auf die andere Seite des Gebäudes. Ich versuchte mir klarzumachen, welches Fenster zum Lutherzimmer gehören müsse. «Franziska!» rief ich hinauf. «Franziska!» Nichts rührte sich. Ich rief noch einmal, so laut, daß ich schon Angst hatte, Aufsehen zu erregen. Es war aussichtslos. „Wir müssen zum Empfang“, rief ich, aber auch das machte keinen Eindruck. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Sie mußte mich doch hören. „Franziska! Hörst du mich, Franziska?“ Das war eine ausgesprochen alberne Frage und ich begann mich über mich selbst zu ärgern. Sollte sie doch ihre Launen austoben, wie es ihr paßte! „Ich gehe jetzt“, rief ich, und als sich immer noch nichts rührte, ging ich – zuerst zögernd, dann grimmig entschlossen – zum Hauptgebäude zurück, um mir ein Taxi für die Fahrt hinunter in die Stadt rufen zu lassen.

Aber im Tagungsbüro war mittlerweile niemand mehr. Eine Telefonzelle gab es hier oben nicht. Also mußte ich zu Fuß gehen. Wutschnaubend machte ich mich auf den Weg. Es war absurd, einfach absurd! Diesmal war sie zu weit gegangen. Diesmal würde ich ihr nicht verzeihen. Aber je länger ich durch die frische Abendluft schritt, um so mehr schwand mein Zorn und machte der Sorge Platz. Auf dem Empfang konnte ich an nichts anderes denken, als daß Franziska in der Vogtei der Wartburg eingeschlossen war, auf harten Bohlen schlafen mußte und wahrscheinlich vor Kälte und Einsamkeit kein Auge zutat.

Schließlich hielt ich es nicht mehr länger aus. Ich entfernte mich unter einem Vorwand, bestieg draußen ein Taxi und ließ mich zur Wartburg hinauffahren. Dem Taxifahrer, der mich mißtrauisch musterte, erzählte ich, daß ich bei dem schönen Wetter an der historischen Stätte einen Nachtspaziergang machen wolle. Mittlerweile war es stockdunkel geworden, so daß ich Mühe hatte, mich zurechtzufinden. Als ich schließlich unter dem Fenster des Lutherzimmers stand, glaubte ich einen Lichtschein hinter den Scheiben zu sehen. „Franziska!“, flüsterte ich. Aber das war nun wirklich so leise, daß sie es unmöglich hören konnte. Andererseits konnte ich in der Nacht auch nicht laut rufen, wenn ich Aufsehen vermeiden wollte. Das Licht im Lutherzimmer war nun ganz deutlich zu sehen. Kein Zweifel: Da drinnen hatte jemand eine Kerze angemacht.

Ich überlegte. Schließlich kam ich auf den Gedanken, kleine Steinchen an das Fenster zu werfen. Kaum hatte ich das Fenster getroffen, da erlosch das Licht. Ich war ratlos. Ohne ersichtlichen Grund mußte ich plötzlich daran denken, wie ich, wenn ich abends noch spät an meinem Schreibtisch saß, zuweilen glaubte, ein Schluchzen zu hören. Aber wenn ich dann die Treppe hinaufging und vorsichtig die Tür zu Franziskas Zimmer öffnete, lag sie jedesmal im tiefsten Schlummer. Ich hatte mir alles nur eingebildet. Und doch beunruhigte es mich… Das Fenster blieb dunkel. Stundenlang ging ich auf und ab, zählte bis zwanzig, sah zum Fenster hinauf, wendete, ging zurück, zählte, sah hinauf. Oben tat sich nichts. Irgendwann, es mag gegen zwei oder drei Uhr gewesen sein, gab ich auf und marschierte den Berg hinunter zum Hotel.

Als ich aufwachte, war es kurz nach acht. Ich sprang aus dem Bett, zog mich an und saß wenige Minuten später schon in einem Taxi, das mich zur Wartburg hinaufbrachte. An der Vogtei hatte der Wärter gerade die Tür aufgeschlossen. Besucher waren zum Glück noch nicht da. Als ich eintrat, erkannte mich der Alte wieder. War wohl doch ein bißchen knapp gestern abend, wie? Na, jetzt haben Sie Zeit. Schauen Sie sich in Ruhe alles an.“ Ich murmelte etwas und lief die Treppe hinaus. Ich sah sofort, daß die Tür des Lutherzimmers halb offen stand. Franziska war nicht mehr da! In der Luft lag ein feiner Brandgeruch. >>
>> Er stammte offenbar von einem Häufchen Asche, das ich in einer Ecke auf dem Fußboden entdeckte. Bei naherem Zusehen bemerkte ich, daß es sich um verkohltes Papier handelte. Anscheinend hatte Franziska hier Geschriebenes verbrannt. Eine ganze Menge sogar. Was war so geheim, daß sie es auf diese Weise vor möglicher Entdeckung schützen mußte? Vielleicht hatte sie hier in der Einsamkeit auf vielen Seiten alles aufgeschrieben, was sie mir all die Jahre hindurch nicht hatte sagen können oder wollen. Konnte es sein, daß sie mir etwas nie Gesagtes hatte mitteilen wollen, daß ihr aber im nüchternen Licht des Morgens das Aufgeschriebene übertrieben, peinlich oder ganz und gar sinnlos erschienen war?

Mein Blick fiel auf den eichenen Schreibtisch, der in einer Nische am Fenster stand. Beschwert mit einem altmodischen Tintenfaß lag dort ein Zettel. Ich nahm ihn und las: EINMAL MUSST DU ES ERFAHREN: ICH HABE FÜR DEN STAATSSICHERHEITSDIENST DER DDR GEARBEITET. MEINE TÄTIGKEIT HAT NUN IHREN SINN VERLOREN. LEB WOHL! FRANZISKA. Ich fühlte mich, als hatte mich ein Keulenschlag getroffen. Auf vieles war ich bei Franziska gefaßt gewesen. Darauf nicht.

Durch meinen Kopf schossen tausend angefangene Gedanken. Immer wieder las ich die knappe Botschaft, sprach sie halblaut vor mich hin, horchte auf den Wortlaut, ob ihm nicht insgeheim ein ganz anderer, ein mir verborgener positiver Sinn unterlegt sei. Aber was auf dem Zettel stand, war unmißverständlich. Je öfter ich ihn las, um so tiefer brannte sich die Wahrheit in mein Bewußtsein ein: Franziska hatte mich hintergangen. All die Jahre hindurch hatte sie mit mir ein ausgeklügeltes Spiel gespielt, mich benutzt, um Beziehungen zu knüpfen und Informationen zu sammeln, die sie regelmäßig an ihre Auftraggeber weitergereicht hatte.

Ein tiefer Brummton, erst leise, dann anschwellend holte mich in die Wirklichkeit zurück. Eine dicke Schmeißfliege umkreiste mich mit einer Aufdringlichkeit, die meinen ohnehin überspannten Nerven den Rest gab. Ich schlug wild um mich, drehte mich im Kreis und kreischte hysterisch. Erst als ich mir den Ellbogen an einer Stuhllehne stieß, brachte mich der Schmerz wieder zur Besinnung. Während ich nach Luft rang und meinen schmerzenden Ellbogen rieb, bemerkte ich, daß die Schmeißfliege sich auf der gegenüberliegenden Wand niedergelassen hatte und mich aus hässlichen Facettenaugen höhnisch anfunkelte. In diesem Augenblick wurde ich mir meiner ganzen Ohnmacht und Verlassenheit bewußt. Verzweiflung erfaßte mich und schlug jäh um in Haß gegen das impertinente Biest, das teuflisch schwarz und übergroß auf der weißgetünchten Wand hockte. Vorsichtig nahm ich das alte Tintenfaß vom Schreibtisch, wog es in der Hand, holte langsam aus, ohne mein Ziel aus den Augen zu lassen, und schleuderte es mit aller Kraft gegen meinen Widersacher.

Als die Scherben klirrten, wachte ich auf. Vor meinem Bett stand Franziska, ein Tablett mit Kaffee in den Händen. „Was ist denn los?“ fragte sie. „Was starrst du mich denn so entgeistert an?“ Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo ich war. Geträumt hätte ich, lauter wirres Zeug, von der Wiedervereinigung und so, stammelte ich. Franziska lächelte. „Trink erst mal einen Kaffe“ sagte sie. „Um Deutschland brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Da ist alles beim Alten.“

Johano Strasser

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