Auf der Welt sind im Jahr 2016 ungefähr 60 Millionen Menschen vor Krieg, Gewalt und Folter geflohen. Der 20. Juni ist als ein internationaler Gedenktag von der Weltgemeinschaft diesen Leuten gewidmet. Deshalb stellt sich die Frage heute, wer eigentlich als Flüchtling im internationalen Recht anerkannt wird, und wie sich usbekische Rechtsgrundlagen dabei vom internationalen Recht unterscheiden. Zentralasienwissenschaftler gehen davon aus, dass wegen der geographischen, sozialen und kulturellen Fragmentierung in der Region eine zentralasiatische „Welle des Aufbruchs“ nach dem Muster des Arabischen Frühlings entstehen kann. Deshalb können auch die zentralasiatischen Länder von Flüchtlingswellen betroffen werden. Die größte Flüchtlingswelle nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfolgte aufgrund des ethnischen Konflikts in Südkirgisistan im Jahre 2010.
Zentralasien wurde bereits in den 1990er Jahren von einer breiten Flüchtlingswelle erfasst, als viele Menschen aufgrund der Bürgerkriege in Afghanistan und Tadschikistan in den zentralasiatischen Ländern um Asyl baten. Da mit dem Ende der Sowjetunion auch deren Asylregelungen keine Anwendung mehr fanden, stützten sich die zentralasiatischen Länder auf die internationale Praxis, um angemessen auf den Flüchtlingsstrom reagieren zu können. Deshalb wurde die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von den zentralasiatischen Ländern am Ende der 90er Jahre (Kasachstan 15.01.1999, Kirgisistan 18.10.1996, Tadschikistan 07.12.1993 und Turkmenistan 02.03.1993) ratifiziert. Folglich basierten die Rechtsgrundlagen dieser Länder hinsichtlich von Flüchtlingsfragen nun auf der Genfer Flüchtlingskonvention. Als einziger postsowjetischer Staat Zentralasiens hatte Usbekistan die Konvention jedoch nicht anerkannt.
Internationale sowie usbekische Identifizierung des „Flüchtlings“
Nicht jede Person kann als Flüchtling charakterisiert werden. Die Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951 ist ein grundlegendes Dokument des aktuellen internationalen Flüchtlingsrechts. In diesem Übereinkommen wird das grundlegende Verfahren beim Umgang mit den Flüchtlingen festgeschrieben. Außerdem wurden in der Konvention definiert, wer unter den Begriff „Flüchtling“ fällt. Nach Artikel 1A Abs. 2 der GFK ist ein „Flüchtling“ eine Person, die: „[…] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlos infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“
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In der usbekischen Gesetzgebung gibt es kein rechtlich festgelegtes Verfahren zur Erlangung eines Flüchtlingsstatus. Den einzigen Verweis auf die Asylinstitution gibt es im Strafgesetzbuch der Republik Usbekistan aus dem Jahr 1994. Artikel 223 des Strafgesetzbuches sieht vor, dass die „Ausreise ins Ausland und die Einreise nach Usbekistan oder Grenzüberschreitung ohne Reisedokumente folgendermaßen bestraft werden […] Andere Staatsbürger und die Staatslosen, die nach Usbekistan angekommen sind, werden von Haftung befreit, wenn sie, wie im Grundrecht Usbekistans verankert, politisches Asyl beantragen.“
Dennoch gibt es kein institutionalisiertes Verfahren, um Asyl zu beantragen. Es gibt weder eine offizielle Anlaufstelle für Asylsuchende noch verfügbare Informationen über mögliche Asylanträge. In der usbekischen Verfassung wird nur eine einzige Möglichkeit genannt, die im Artikel 93 Absatz 22 festgehalten ist, in dem es um die Rechte und Pflichten des Präsidenten geht. Der Präsident „gewährt die Anfrage auf Staatsbürgerschaft der Republik Usbekistan und politisches Asyl.“ Allerdings lassen sich auch an dieser Stelle keine Anwendungsregeln spezifizieren. Der Artikel 223 kann deshalb in der Realität nicht oder nur schwer angewendet werden, da die Verfassung eben keine genauen Rechtsgrundlagen für Bestimmung des Flüchtlingsbegriffs und einen Asylantrag aufweist.
Das Büro des UNHCRs (Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen) war bis 2006 das einzige relevante Rechtsschutzorgan für Flüchtlinge in Usbekistan. Ungeachtet dessen, musste das Büro aufgrund eines Befehls der usbekischen Regierung seine Tätigkeit aufgeben. Dies begründete die Regierung in einem offiziellen Statement ausschließlich damit, dass der UNHCR seine Aufgaben vollständig erfüllt habe und keine Gründe für seine weitere Präsenz in Usbekistan bestünden.
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Instabilitätsherde Zentralasiens
Zur Zeit der Sowjetunion wurden die Grenzen Zentralasiens so gezogen, dass verschiedene Ethnien auf verschiedene Länder aufgeteilt waren. Infolgedessen sind die zentralasiatischen Länder bis heute von ethnischer Diversität geprägt. Zum Beispiel sind fast 20% der 6 Millionen Einwohner Kirgisistans Angehörige anderer ethnischer Gruppen. Es ist hervorzuheben, dass die usbekische Nation die zweitgrößte Diaspora Kirgisistans (878 615 bzw. 14.6%) ist. An dritter Stelle stehen Russen, deren Anteil bei 6% liegt. Außerdem leben über 8000 Deutsche in Kirgisistan sowie andere Nationalitäten wie zum Beispiel Dungaren, Türken, Kasachen und Uiguren. Diese ethnische Vielfalt der Bevölkerung hat dazu geführt, dass sich die einzelnen ethnischen Großgruppen durch ihre Gruppenidentitäten von anderen abgrenzten. Aufgrund des Fehlens einer gemeinsamen, nationalen Identität entstanden immer wieder Konflikte zwischen den Vertretern der größeren ethnischen Gruppen. So wollte die Sowjetunion verhindern, dass sich die Volksgruppen zusammenschlossen und sich gegen die sowjetische Regierung wandten.
Zwar sind die Macht der Sowjetunion sowie die unruhige Konstellation der 90er Jahre vorbei, genauer gesagt, herrscht in der Region eine durch Gewalt geregelte Demokratie. Aber diese Grenzziehung führt bis heute in den Ländern Zentralasiens zu kleinen und großen ethnischen Konflikten. So betont zum Beispiel Omurbek Almanbetow, ein Mitarbeiter des kirgisischen Landesamtes für lokale und ethnische Selbstverwaltung: „In Kirgisistan gibt es 149 Instabilitätsherde, in denen Konflikte entstehen können.“ Ungeachtet eines so hohen Konfliktpotenzials sind die zentralasiatischen Länder dennoch nicht auf mögliche Konflikte vorbereitet, was unter anderem auch zu Menschenrechtsverletzungen führen kann. Als Beispiel kann man hierfür den ethnischen Konflikt in der Stadt Osch Südkirgisistans im Jahr 2010 anführen.
Flüchtlingswelle wegen des ethnischen Konflikts in Südkirgisistan 2010
Wenige Monate nach dem Sturz des kirgisischen Präsidenten Kurmanbek Bakijew, kam es so in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 2010 erneut zu ersten Zusammenstößen in der südkirgisischen Stadt Osch zwischen kirgisischen und usbekischen Jugendlichen und nahm eine dramatische lawinenartige Fortsetzung in Massenunruhen. Der Konfliktausbruch zwischen Jugendlichen begann in einer Spielhalle mit einem Missverständnis, das zum Streit eskalierte. Dabei wird, unter anderem von Human Rights Watch, betont, dass die jungen Usbeken die Initiatoren des Konflikts waren. Da der Süden Kirgisistans größtenteils von Usbeken bewohnt ist, riefen die in die Auseinandersetzung involvierten kirgisischen Jugendlichen Angehörige ihrer Volksgruppe aus den Nachbardörfern und –städten zu Hilfe. Dies führte zu einer Ausweitung des Konflikts, der sich in den folgenden Tagen zu flächendeckenden Auseinandersetzungen unter intensiver Anwendung von Waffengewalt entwickelte. Dabei wurde von Verfolgung, Tötung, Folter und sexueller Belästigung zwischen beiden Konfliktparteien berichtet.
Vorboten in der Sowjetzeit
Einen ähnlichen Konflikt hat es in Südkirgisistan bereits im Jahr 1990 zwischen Usbeken und Kirgisen gegeben. Nach offiziellen Angaben vom Innenministerium der Kirgisischen SSR sind im Laufe des Konflikts 300 Menschen gestorben sowie ungefähr 1500 Menschen schwer verletzt geworden, wobei inoffizielle Quellen von vierfach höheren Opferzahlen ausgehen. Zwar wurde dieser Konflikt durch die sowjetische Armee beendet, dennoch verstärkte er die Feindbilder der ethnischen Gruppen untereinander und festigte deren jeweilige Gruppenidentität.
Als tieferliegende Gründe für den erneuten Konfliktausbruch suchen beispielsweise Historiker ähnlich die Erklärung in der konfliktreichen Vorgeschichte der ethnischen Gruppen. Eine andere Erklärung geben unter anderem Psychologen, die als Grund die narzisstische Politik Kirgisistans gegenüber anderen ethnischen Gruppen nennen. Dennoch wies die kirgisische Regierung keiner der beiden Konfliktgruppen die Schuld an dem gewaltsamen Ausbruch zu, sondern nannte als Initiator eine dritte, wenn auch nicht näher bestimmte, Gruppe.
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Über die Angaben von Zerstörung, Opfern und ihrer ethnischen Zugehörigkeit wurden seit Beginn des Konfliktes heftige, polemische Diskussionen geführt. Mehreren staatlichen Quellen, NGOs und Vertretern der beiden Volksgruppen liegen verschiedene Daten vor, die deren jeweiligen Standpunkt im Konflikt stützen. Zum Beispiel gibt das kirgisische Gesundheitsministerium an, dass die Anzahl aller Konfliktopfer bei 418 liegt, wohingegen der Vertreter der usbekischen Gemeinschaft betont, dass beim Massaker selbst mehr als 2000 Usbeken getötet worden sind.
Es ist zu betonen, dass hauptsächlich Angehörige der usbekischen Volksgruppe verfolgt wurden, was zum Beispiel durch die hohe Anzahl südkirgisischer Flüchtlinge nach Usbekistan deutlich wird.
Nach offiziellen Angaben des usbekischen Gesundheitsministeriums sind 75.000 Flüchtlinge aus Kirgisistan vom 11. bis 24. Juni 2010 nach Usbekistan geflohen, die dann in 57 Lagern untergebracht wurden. Hinzu kommt eine wahrscheinlich hohe Dunkelziffer nicht registrierter Flüchtlinge, die bei Verwandten oder Freunden unterkamen und deshalb nicht offiziell von den Ämtern erfasst wurden. So teilte die kirgisische Regierung mit, dass ungefähr 120.000 Menschen nach Usbekistan geflohen sind. Zudem berichtete das Weltkinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), dass sich zu diesem Zeitpunkt 100ю000 Flüchtlinge in Usbekistan befanden. Davon seien rund 90% Kinder und Frauen gewesen.
Die Verletzung des Völkergewohnheitsrechts durch Usbekistan
Infolge der Verfolgung der usbekischen Diaspora in Südkirgisistan sind Tausende Menschen ins Nachbarland Usbekistan geflohen. Trotz der anhaltenden Unruhen und Verfolgung der usbekischen Diaspora in Südkirgisistan ordnete die usbekische Regierung nach ein paar Tagen Zwangsabschiebungen für die Flüchtlinge an. Die zwangsweise Abschiebung der ethnischen Usbeken nach Südkirgistan, trotz drohender Verfolgung und Folter, gilt als Verletzung des Völkerstrafrechts.
Der Verstoß liegt darin, dass die Regierung Usbekistans die Flüchtlinge trotz drohender Gefahr von Folter ausgewiesen hatte, was gegen das Folterverbot im Völkergewohnheitsrecht spricht. Denn zu diesem Verbot gehört auch, dass Menschen nicht in die Gefahr von Folter gebracht werden dürfen, wie es die ethnischen Usbeken in Südkirgistan bei einer Zwangsabschiebung zu befürchten hatten.
Die Massenzurückweisung der Flüchtlinge durch die usbekische Regierung – trotz drohender Gefahr von Folter und Gewalt – sowie das Fehlen von internationalen Sanktionen durch den Internationalen Strafgerichtshof oder seitens einzelner Staaten zeigt, dass obwohl das Nichtzurückweisungs-Gebot eine Institution des Völkergewohnheitsrechts ist, es weder von allen Staaten eingehalten wird noch seine Verletzung ausreichend geächtet bzw. sanktioniert wird. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Welt noch weit davon entfernt ist, global für alle Menschen geltende Rechtsnormen zu schaffen und auch durchzusetzen.