Was kann man Besonderes in einem Jahr machen, in dem 500 Jahre Reformation gefeiert werden? Eine Gruppe junger Erwachsener aus den deutschsprachigen Gemeinden Wolkendorf und Heltau in Rumänien war zwei Monate lang mit dem Kleinbus auf der Seidenstraße unterwegs, um evangelische Gemeinden im Jahr der Reformation zu besuchen. In der DAZ berichtet Pfarrer Uwe Seidner in mehreren Teilen von ihrer Reise, die von Rumänien über den Iran und Zentralasien nach China führte.
Wir verabschiedeten uns von Bischkek und machten uns auf den Weg zum großen Bruder Kasachstan. Bis zur Grenze sind es gerade einmal 30 Minuten. Auf dem Plan stand Almaty am Fuße des Tienschan-Gebirges. Bis 1997 war Almaty die Hauptstadt Kasachstans. Heute heißt die Hauptstadt Astana, doch noch immer gilt Almaty als das kulturelle Zentrum des Landes. Kasachstan ist das größte und wirtschaftlich stärkste Land in Zentralasien, vor allem aufgrund seiner Öl– und Gasreserven. 1991 war Kasachstan der letzte Staat, der sich von der Sowjetunion lossagte. Seitdem wird es von dem mittlerweile 77-jährigen Nursultan Nasarbajew regiert.
In Almaty besuchten wir das Deutsche Haus, um etwas mehr über die Deutsche Minderheit in Kasachstan zu erfahren. Wir wurden von Olga Stein empfangen, die eigentlich das Berufs– und Informationszentrum in Karaganda leitet. Von ihr erfuhren wir, dass es in Kasachstan noch etwa 180.000 Deutschstämmige gibt. Zwar sind sie im ganzen Land verteilt, doch lebt der Großteil im Norden Kasachstans. Bis zur großen Auswanderungswelle in den 1990er Jahren waren es rund eine Million „Nemzy“. Die Organisation der Deutschen Minderheit „Wiedergeburt“ wird von der deutschen Bundesregierung unterstützt.
Lesen Sie auch: Deutsche Minderheit organisiert sich neu
Glaube hilft
Unter Stalin wurden die Deutschen, die in Osteuropa und Kaukasien lebten, nach Sibirien und Zentralasien deportiert. In Kasachstan wurden sie in sogenannten „Trudarmeen“, also Arbeitsarmeen, organisiert und in Arbeitslagern interniert. Sie wurden beim Bau von Eisenbahnlinien und Industrieanlagen, im Bergbau oder beim Holzfällen eingesetzt. Nicht wenige wurden in Kolchosen als Erntehelfer angesiedelt. Nach dem Tode Stalins 1953 verbesserte sich ihre Situation nach und nach.
Wie L.A. Burgart schreibt, half den Deutschen in diesen schwierigen Jahren der Glaube an Gott – wurde doch ihr „monokonfessionelles und ethnisch homogenes Zusammenleben zerstört“. Aus Aufzeichnungen geht hervor, dass die Deutschen ohne Priester, Kirchen und Bethäuser nur im Gebet für sich selbst innerhalb der Familie oder geheimen Gebetsgruppen ihre Religion ausleben konnten. Trotz der langen Zeit der Unterdrückung hat die lutherische Kirche in Kasachstan überlebt. Heute hat sie 2.500 Mitglieder in 50 Kirchengemeinden, die im ganzen Land verstreut liegen. Sie werden von zehn Geistlichen betreut.
Im Deutschen Haus besuchten wir außerdem die Redaktion der DAZ und trafen uns mit Jugendlichen aus der Minderheit. Mit ihnen erkundeten wir die Stadt und besuchten das evangelische Bethaus von Almaty. Hier dient Pastor Gennadi. Bis er zum Geistlichen ordiniert wurde, war er Soldat, Funker und Physiker. Heute betreut er etwa sechzig Seelen. 1990 waren es noch 2.000 Kirchenmitglieder.
Lesen Sie auch: Vom Physiker zum Geistlichen: Pastor Gennadi
Rumänen in Kasachstan
Von Almaty aus machten wir uns auf den Weg nach Astana. Zwischendurch stoppten wir in Karaganda. Ausländern ist Karaganda höchstens durch das KarLag, eines der größten Arbeitslager in der Sowjetunion, bekannt. Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn beschreibt in seinem Klassiker „Archipel Gulag“ die menschenunwürdigen Bedingungen in dem Lager.
Vor Ort trafen wir uns mit Nicolae Pluschkis, dem Präsidenten des Vereins „Dacia“ der Rumänen in Kasachstan. In den Kriegsjahren kamen auch rumänische Soldaten als Gefangene ins KarLag. Wenn sie Glück hatten, heirateten sie eine Frau aus dem Lagerpersonal und erhielten erleichterte Haftbedingungen. Ein Großteil der rumänischen Minderheit, die heute in Karaganda lebt, wurde aus der Sowjetrepublik Moldau zwangsumgesiedelt.
Nicolae Pluschiks kam 1980 als Basketballtrainer jedoch freiwillig nach Karaganda. Der letzte Besuch aus Rumänien lag bereits sechs Jahre zurück, als 2011 eine Gruppe junger Erwachsener aus Siebenbürgen hier war. Pluschkis empfing uns im „Haus der Völkerfreundschaft“, einem sehr modernen Gebäudekomplex, der vom kasachischen Staat finanziert wird.
In Karaganda gibt es 24 eingetragene Volksgruppen. Neben der größten Volksgruppe der Deutschen, gibt es auch Koreaner, Polen, Italiener, Ukrainer, Tataren und Rumänen. All diesen stehen Räumlichkeiten des „Hauses der Völkerfreundschaft“ zur Verfügung. Bei einem geselligen Gespräch zu rumänischem Weißwein und Pilzsalat erfuhren wir viel über die Belange und Projekte der rumänischen Minderheit, die wohl eine der aktivsten im Lande ist.
Es werden Sprachkurse angeboten, ebenso wie Kurse zur Geschichte und Kultur Rumäniens. Der größte Stolz ist die Folkloregruppe des Vereins. Durch ihre Auftritte bei verschiedenen Festen im Land und unlängst bei der Expo in Astana hat sie eine gewisse Bekanntheit erlangt. Eine der beliebtesten Darbietungen ist das Singen rumänischer Volkslieder wie „Bucovina“ – in rumänischer und kasachischer Sprache.
Lesen Sie auch: Dolinka – Ein Denkmal für den Schrecken
„Dubai der Steppe“
Bevor wir auf die Hauptstadt zusteuerten, besuchten wir noch das KarLag-Museum in Dolinka, das aufgrund seiner Gestaltung und realistischen Darstellung positiv überraschte. Wir erreichten Astana, auch „Dubai der Steppe“ genannt. Am Horizont erblickten wir die Silhouette der modernen Hochhäuser der Stadt. Das Wort Astana bedeutet im Kasachischen „Hauptstadt“. Sie soll für den Reichtum und Fortschritt des Landes stehen.
Einen großen Schritt für die lutherische Kirche in Zentralasien war die Einweihung der neu erbauten „Christus-Erlöser-Kirche“ in diesem Sommer. Die Gemeinde in Astana blickt auf eine über 50-jährige Geschichte zurück. 1957 gelang es dem nach Zelinograd deportierten Pastor Eugen Bachmann, einen rechtlichen Status für die Gemeinde zu erlangen, und sie durften offiziell Gottesdienste feiern. Ein Bethaus wurde erbaut, in welchem sie ihrem Glauben Ausdruck verleihen konnten.
Lesen Sie auch: Ein leuchtendes Beispiel interkonfessioneller Einheit
Eine neue Kirche
Vor ein paar Jahren wurde jedoch beschlossen, dass das Viertel, in dem sich das Bethaus befindet, neugestaltet werden soll und die Gebäude aus der Sowjetzeit neueren weichen sollen. Juri Nowgorodow, Bischof der evangelischen Kirche in Kasachstan, nutzte diese Gelegenheit: Er kaufte ein Grundstück und begann mit der Errichtung der ersten lutherischen Kirche samt Gemeindezentrum in Kasachstan. Viele Förderer und Geldgeber konnten für dieses Projekt gewonnen werden – nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Kasachstan selbst. Mit rund siebzig Prozent haben muslimische Unternehmer der Stadt das Bauvorhaben unterstützt. Als treibende Kraft gilt jedoch der Vorsitzende der „Wiedergeburt“ Albert Rau.
Die „Christus-Erlöser-Kirche“ konnte pünktlich zum 500-jährigen Jubiläum der Reformation fertig gestellt werden und am 17. September wurde das neue Gotteshaus eingeweiht. Bei der Eröffnung trafen wir zufällig auf einen Landsmann. Freudig überrascht begrüßten wir Dr. Johann Schneider, Regionalbischof von Wittenberg und Halle, in unserer siebenbürgisch-sächsischen Mundart. Viel Zeit für die Wiedersehensfreude blieb uns allerdings nicht, da bald auch schon der Festzug, angeführt von Bischof Nowgorodow, erschien.
Vor der Pforte überreichte der Bischof den Kirchenschlüssel Pastor Schanibek Batenow. Er wird in dieser Kirche als Pfarrer der Gemeinde in Astana seinen Dienst tun. Der dreieinhalb stündige Gottesdienst selbst warf aus reformatorischer Sicht einige Fragen auf und brachte so manche Rätsel mit sich. Der Gottesdienst war eine Mischung aus altlutherischen und evangelikalen Elementen, wie man sie aus den Vereinigten Staaten kennt, sowie pseudo-orthodoxen Bräuchen. Zum Schluss folgte die Einsegnung von Bischof Nowgorodow durch seine Pfarrer als „Ehrenerzbischof“. Für uns wirkte all das sehr befremdlich. Als sehr schön empfanden wir allerdings die Choralgesänge der versammelten Gemeinde.
Lesen Sie auch: Staatsbesuch auf hohem Niveau
Ein Geschenk aus Hermannstadt
Nach der Austeilung des Abendmahls, das die Gottesdienstbesucher mit strahlenden Gesichtern empfingen, folgte eine Reihe von Gruß– und Dankesworten. Auch unsere kleine Delegation aus Siebenbürgen kam zu Wort. Von Bischof Reinhard Guib überbrachte ich ein kurzes Grußwort und erwähnte das Geschenk, das per Kurierdienst vom Bischofamt aus Hermannstadt an die Kirchenkanzlei in Astana geschickt worden war: Weiße liturgische Textilien, die früher in der Gemeinde von Holzmengen ihren Nutzen hatten.
Auf dem anschließenden Empfang lernten wir einige Gemeindeglieder kennen. Beeindruckt haben uns zwei achtzigjähre Herren: Sie erzählten uns, sie seien mit dem Auto aus Deutschland angereist. Infolge der Perestroika sind sie aus dem sibirischen Omsk nach Deutschland ausgesiedelt. Trotzdem sind sie ihrer Heimat verbunden geblieben und fahren jedes Jahr mit dem Auto von Deutschland nach Omsk. Bei der Einweihung der neuen Kirche wollten sie gern dabei sein und kamen dieses Mal ein Stückchen weiter bis nach Astana. Auch wir wollten weiter und machten uns von Astana gen Osten auf.
Uwe Seidner
Lesen Sie auch: Gegen den Strom: Evangelische Kirchengemeinden entlang der Seidenstraße: Kirgisistan