Obst-und Gemüsehändler legen dicke Wolldecken über ihre Stände, Männerbärte nehmen bizarre Formen an: die ostkasachstanische Bezirkshauptstadt Ust-Kamenogorsk wird derzeit von einer rekordverdächtigen Kältewelle heimgesucht. Einige Beobachtungen zur Phänomenologie des Frosts
Seit dem 23. Januar sind die Tage fast ebenso kalt wie die Nächte. In Ust-Kamenogorsk werden morgens minus 42 Grad gemessen. In Syrjanowsk, einer Kleinstadt etwa 120 Kilometer weiter östlich, waren es in einige Nächte lang gar minus 53 Grad Celsius.
Die Eisblumenbilder an den Fenstern und Balkonen verschwinden gar nicht mehr nach derartigen Frostnächten. Sie tauen nur etwas ab, rutschen nach unten und bei Dämmerung enstehen sie wieder aufs Neue. Kristalle glitzern bei Sonnenaufgang und kündigen einen neuen kälterekordverdächtigen Tag an.
Die Älteren unter den Einheimischen erinnern sich, einen solchen Dauerfrost zuletzt im Jahre 1969 erlebt zu haben. Mehrere Tage ununterbrochen unter minus 35 Grad – inzwischen sei das eine richtige Seltenheit geworden.
Viele Passanten halten sich die Hand vor Nase und Mund. Nicht wie sonst wegen der permanenten Luftbelastung durch die schwefelsäurehaltigen Abgase aus der Zinkproduktion, sondern um Erfrierungen vorzubeugen. „Wenn die Nase erst weiß ist, hast du verloren. In einigen Tagen sitzt dir ein seltsamer runder Fleck auf der Nasenspitze“, sagt ein Mann, der auch bemerkt, dass der wegen seiner hohen Fließgeschwindigkeit nicht zufrierende Irtysch erst bei Frost unter minus 30 Grad zu dampfen beginnt. Die gegenwärtigen Temperaturen liegen sogar noch unter denen von Jakutien, dieser für seinen Frost bekannten Region im Osten Russlands.
In Kasachstans östlicher Bezirkshauptstadt verwandeln sich nun Männerbärte in „Väterchen-Frost“-Gebilde, weiße Spuren zeichnen sich im Gesicht ab – bis hin zu anfrierenden Wimpern, die erst beim Lidschlag aufweichen. Die Händler aus den umliegenden Dörfern bedecken ihre Waren mit dicken Wolldecken. Hartnäckig harren die Babuschkas in Ziegenfelltüchern und Filzstiefeln aus, um ihr Eingewecktes in Gläsern anzubieten. Nur für die Fisch-Verkäufer und tadschikischen Händler mit ihren Trockenfrüchten und Nüssen bleibt alles unverändert.
Im Wettlauf mit dem Frost meint es die Leitung der städtischen Heizwerke anscheinend zu gut: aus dem Wasserhahn kommt fast kochendes Wasser, Armaturen sollten nicht angefasst werden, und abends versichert das Radio, dass die Wasserversorgung trotz wild wuchernder Gerüchte über geplatzte Rohre und Risse an den Hauptkesseln stabil bleiben werde.
Das Stadtradio und das örtliche Fernsehen geben frühmorgens bekannt, ob das „Kältefrei“ in den Schulen um einen weiteren Tag verlängert wird. Dafür gelten Richtwerte der Morgentemperaturen, abgestuft nach Altersgruppen. So kann es passieren, dass die oberen Klassen zum Unterricht gehen, während die Kleinen zu Hause bleiben müssen. Diesmal bleiben über zweiWochen die Schulbänke leer, Wände und Räume kühlen zunehmend aus. Hausmeister haben lediglich die Aufgabe, die Heizungsrohre zu kontrollieren, um ein Einfrieren zu verhindern. Kleine Katastrophen finden trotzdem statt. Topfpflanzen sind von den Fensterbrettern genommen und auf die Fußboden gestellt worden, um sie vor der eisigen Zugluft zu schützen. In mehreren Aquarien gibt es keine Fische mehr.