Jeder sagt was anderes. Jeder weiß es besser. Und alle haben Recht. Weil es sowieso keine objektive Wahrheit gibt, sondern nur subjektive Eindrücke. Zuletzt in kleiner Runde – vier Köpfe sitzen zusammen, vier Stimmen vermelden was anderes.
Fast streiten wir uns. Herbert findet, in Russland blüht die Wirtschaft, den Russen geht es gut, und es gibt nun Wohlstand. Das finde ich überhaupt nicht. Ja, schon, man sieht in den Zentren moderne Bauten, Autos, Unternehmen, Geschäfte. Viele Russen sagen selbst, heute sei es besser als noch vor Jahren. Ab und zu kommt man auch mit Leuten in Berührung, die vermögend sind. Aber alles in allem – während meiner zwei Jahre Aufenthalt in Russland habe ich fast nur Menschen kennen gelernt, die nicht genug Geld haben. Alle meine Freunde und Bekannten leben mit vielen Personen in kleinen Wohnungen in Außenbezirken und wissen nicht so genau, wie sie ihr Leben finanzieren sollen. Das ist meine Realität. Weil man aber am liebsten glaubt, was man mit eigenen Augen sieht, glaubt mein Vorredner trotzdem weiterhin an den Reichtum Russlands. Woher er das weiß? Er war drei Mal einige Wochen in Wolgograd und ein Mal zweieinhalb Stunden in Moskau. Er findet auch, dass deutsche Firmen in Russland gut etabliert sind. Endlich kommt Dima dazu, denn der findet das nicht. Und Dima weiß, wovon er spricht – zumindest in der Baubranche kennt er sich aus. Was er sonst über Russland weiß, weiß er auch nur zum Teil. Denn Dima kommt aus der Ukraine und ist ab und zu in Moskau.
Vieles scheint nur so, klärt er uns auf. Doch manch einer will nicht gern aufgeklärt werden, wir hängen an unserem Bild. Wir brauchen es. Weil wir uns auf unsere Art an die Vergangenheit erinnern wollen. Oder weil wir an unsere Zukunft glauben wollen. Herbert und Dima sehen die Zukunft in den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen. Und dann kommt Irving zu Wort. Und weil er seine Zukunft nicht in Russland sieht, sondern in Afrika, widmet er sich der Vergangenheit. Das kann er besonders gut, weil er vor fünfzehn Jahren drei Monate lang in Russland war. Und weil in unserer Runde der gewinnt, der erst vor kurzem in Russland war, weil sich dort ja angeblich alles im Halbjahresrhythmus verändert, versucht Irving gar nicht erst, mit Expertenwissen aufzutrumpfen, sondern erzählt viel lieber Anekdoten.
Und die kann ihm schließlich keiner nehmen. Ich finde, ich habe beides – die Anekdoten aus der Vergangenheit und auch die Erkenntnisse, weil ich erstens am allerlängsten in Russland war und nämlich zweitens richtig dort gelebt habe und drittens nicht nur in zwei Orten war, sondern in ganz vielen, von West bis Ost, und viertens habe ich viele Freunde aus Russland, und die müssen es ja wissen. Weil ich aber fünftens eine Frau bin und sechstens um einiges jünger als meine Diskussionspartner, hört mir trotzdem keiner zu.
Da wir nicht wirklich schlauer werden wollen, sondern nur diskutieren, um unsere Meinung zu verteidigen und uns fast streiten, gehen wir noch einen Schritt weiter und landen prompt in China. Jetzt werden wir uns wieder einig, denn in China war noch keiner von uns, wir haben alle miteinander keine Ahnung, wie es dort zugeht, nicht mal Anekdoten können wir erzählen. Aus Mangel an Wissen geben wir uns unseren Vorstellungen hin, ein paar Eindrücke aus Presse, Funk und Fernsehen helfen. Weil das zwar alles nur Halbwahrheiten sind, das Gespräch so aber viel mehr Spaß macht, unterhalten wir uns das nächste Mal über Grönland. Darüber wissen wir nämlich rein gar nichts.
Von Julia Siebert
29/09/06