Bereits seit sieben Jahren fördert die Volkswagen-Stiftung aktuelle Forschungsprogramme mit dem Schwerpunkt Zentralasien. Ende November werden in Berlin die Ergebnisse der jüngsten Studien präsentiert. Mit Spannung erwartet wird vor allem der Eröffnungsvortrag des Islamwissenschaftlers Prof. Dr. Jürgen Paul von der Universität Halle, der gemeinsam mit seinem Kollegen aus Aserbaidschan, Dr. Sñhahin Mustafajew, bislang unerforschtes Archivmaterial untersucht hat. DAZ-Mitarbeiter Jan Peter sprach vorab mit ihm.

Sie werden mit ihrem Vortrag die Veranstaltung eröffnen. Was ist das Besondere an ihrem Projekt?

Wir hatten Zugang zu Archivmaterial aus Baku und Taschkent, Quellen die bislang noch überhaupt nicht erforscht wurden. Auch haben wir Materialien aus der russischen Publizistik unter gewissen Fragestellungen untersucht, die zwar nicht völlig neu sind, aber in dieser Form noch nicht an die entsprechenden Texte herangetragen wurden. In gewissem Sinne haben wir also Pionierarbeit geleistet. Das Bild, das wir bislang von dem Prozess der Kolonialisierung der zentralasiatischen Staaten durch die Sowjetmacht haben, könnte sich durch unsere Ergebnisse entscheidend verändern

Welche Fragestellungen waren es, die Sie verfolgt haben?

In erster Linie haben wir uns dafür interessiert, wie die russischen Kolonialherren von der Bevölkerung in Mittelasien und dem Kaukasus wahrgenommen wurden, sowie für die Sicht der Russen auf die von ihnen kolonialisierten Gebiete. Dabei wurde von uns sowohl die vorkoloniale als auch die koloniale Periode untersucht.

Zu welchen Ergebnissen kamen Sie? Wie wurden die Russen in Zentralasien gesehen?

Das Problem ist, dass wir noch keine endgültigen Ergebnisse haben. Eine systematische Auswertung dieser Materialien war nicht Teil der Projektarbeit, das bleibt eine Aufgabe für die Zukunft. Ein Trend lässt sich aber erkennen. Vor allem in den Gebieten, in denen man bis 1850 keinen systematischen Kontakt mit Russen hatte, gab es sehr verschiedene Reaktionen. Manche Mullahs etwa, die zu Beginn eher feindselig eingestellt waren, ließen sich nach und nach doch auf eine Kooperation ein. Auffällig ist auch, dass die zunächst feststellbare Fortschrittsbegeisterung in den entsprechenden Gebieten einer zunehmenden Skepsis wich.

Eine wachsende Feindseligkeit gegenüber fremden Einflüssen lässt sich ja auch derzeit wieder in Zentralasien feststellen. Worin sehen Sie die Ursachen für den zunehmenden Nationalismus?

In der Tat lässt sich eine Entwicklung hin zu einer nationalistischen und ultranationalistischen Haltung in mehreren zentralasiatischen Republiken beobachten. Die Wurzeln dieses Nationalismus gehen aber bis weit in die Sowjetzeit zurück, mindestens bis in die 1960er Jahre. Auch Russ-land, das sollte nicht vergessen werden, macht unter Präsident Putin eine solche Entwicklung durch, und es scheint, dass beide Entwicklungen nicht ganz unabhängig voneinander verlaufen. Man sollte in der Politik zentralasiatischer Staaten zwischen berechtigter Wahrnehmung nationaler Interessen und entsprechenden politischen Strategien und einem innenpolitischen Ultranationalismus unterscheiden. Vor allem Russland sollte eine solche Unterscheidung treffen.

Was ist für Sie persönlich die Intention Ihrer Forschung? Was reizt Sie an der Region Zentralasien?

Ich hatte schon immer ein besonderes Interesse an außereuropäischen Sprachen und Kulturen. Eigentlich bin ich Islamwissenschaftler, habe aber unter anderem auch Russisch studiert. In Zentralasien und im Kaukasus kommt nun beides zusammen. Hier treffen russisch-sowjetische Einflüsse auf eine Bevölkerung, die sehr stark von der iranischen, türkischen und islamischen Kultur geprägt wurde. Insofern ist diese Region für mich natürlich besonders spannend.

Welche Schwerpunkte setzt die Volkswagen-Stiftung in der Förderung ihrer Vorhaben? Gibt es neben geisteswissenschaftlichen Forschungsinitiativen auch andere Projekte?

Die Volkswagen-Stiftung engagiert sich in verschiedenen Bereichen. Auf  nahezu allen Gebieten der Geistes- und Naturwissenschaften werden in mehreren Initiativen gemeinsame Fragestellungen bearbeitet. Das Programm „Mittelasien im Fokus der Wissenschaft” ist nur eine dieser Initiativen. Zudem fördert die Volkswagen-Stiftung auch Projekte, in denen junge Experten aus der Region und für die Region ausgebildet werden.

Herr Prof. Dr. Jürgen Paul, vielen Dank für dieses Gespräch!

17/11/06

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