Der Ethnologe Jesko Schmoller (29) lebt seit Sommer 2006 in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. In seinem sechsten Bericht beschreibt er sein Herzdrücken.
Acht Uhr vorüber, als ich auf den Hof trete. Ich versichere mich, dass auf meinen tarnfarbenen Flipflops kein Skorpion sitzt, bevor ich sie überstreife. Sicherlich eine übervorsichtige Maßnahme, aber seit ich letzten Sommer im Nachbarzimmer einen Skorpion sah, der zwischen den aufgeschichteten Polstern ausharrte, schaue ich lieber doppelt hin.
Die Hofwände, von denen vielerorts der Putz bröckelt, werfen das Klacken des Tischtennisballes und das Lachen meiner kleinen Gastbrüder zurück. Kurz überlege ich, ob ich einen weiteren Versuch machen sollte, sie telefonisch zu erreichen. Das wäre dann das fünfte, nein, das sechste Mal heute abend. Bei jedem vorangegangenen Versuch kam ein Geräusch, als hätte der Telefonanschluss aufgehört zu existieren. Eigentlich ein Grund, sich Sorgen zu machen. Am Freitag morgen wollte sie in die Berge fahren und gestern zurückkommen. Gemeldet hat sie sich nicht. Da ich sie aber schon ein bisschen länger kenne, ist mir die Situation nicht neu. Sie, das ist meine Tatarin, und im letzten Jahr war es häufiger unmöglich, sie zu kontaktieren, manchmal tagelang. Im Zusammenhang mit ihr habe ich über gar nichts Gewissheit, nicht einmal über das „meine“ vor der „Tatarin“. Vielleicht ist es das, was sie so geheimnisvoll, so schattenhaft, so verlockend, doch unerreichbar macht.
Ich überprüfe das Display auf meinem Mobiltelefon, ob nicht doch ein Anruf oder eine Nachricht eingegangen ist. Nichts. Eine Brise freundlich-warmer Abendluft streicht durch den Aprikosenbaum und spielt mit den frisch-grünen Blättern. Noch ein paar Wochen und die ersten Früchte dürften reif sein. Ich lege den Kopf in den Nacken, um nach den Sternen zu schauen, kann aber trotz der Luftströme nur einen oder zwei entdecken. Neben den Weinreben steht die Leiter, die steige ich hinauf und setze mich oben hin.
Eingeengt fühlt sich mein Herz irgendwie an. Vielleicht habe ich zuviel Sport gemacht, und die Muskeln drücken jetzt auf das Organ. Aber von dem bisschen Laufen in der Nachbarschaft kann das doch schlecht kommen? Es handelt sich wohl einfach um mein hypochondrisches Syndrom. Jeder anständige Hypochonder glaubt, herzkrank zu sein. Das habe ich mal irgendwo gelesen. Und als Arztsohn bedarf es wirklich keines großen Könnens, Hypochondrie zu entwickeln.
Wie herrlich der Wind hier oben das Gesicht kühlt und durch mein Haar fährt. Was sie jetzt wohl gerade macht? An mich denken? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht sitzt sie gerade mit ein paar Freunden zusammen und amüsiert sich. Oder sie arbeitet daheim. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es bei ihr zuhause aussieht. Eigentlich weiß ich gar nichts über die Welt, in der sie lebt. Ausgenommen die Dinge, von denen sie erzählt. Wäre ja auch möglich, dass sie eine sehr geschickte Strategin ist. Oder ein herzensgutes Mädchen, das nichts verlangt, als sich in einer harten Welt ihre Träume bewahren zu können. Oder sie hat in den Bergen gerade wieder in einer unterirdischen Grotte die alten, blinden Weisen ihres Reitervolkes aufgesucht, die dort in kopfgroßen Bernsteinen das Schicksal ihrer Nachkommen studieren … Nein, Quatsch!
Hat mein Telefon nicht gerade vibriert? Muss ich mir wohl eingebildet haben. Kein Anruf, keine Nachricht. Wie schön die Welt von hier oben ist. Und ein Skorpion könnte hier auch nie heraufkommen. Mein Kopf lehnt am Metallgestell der Leiter. Dort oben sind irgendwo die Sterne, hinter den Wolken. Vielleicht schaut sie jetzt auch herauf. Von der Restaurantterrasse aus. Oder ihrem Zimmerfenster. Oder von den Bergen. Wahrscheinlich hängt sie ihren Träumen nach. Denkt dabei nicht an mich. Die Luft tut so gut. Nur das Herz, das tut weh.
Von Jesko Schmoller
11/05/07