Die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lockte Massen von einfachen Bauern und Landarbeitern von den Dörfern in die Metropolen Europas, auf der Suche nach Arbeit und einem etwas besseren Lebensstandard. Viele Menschen, die diesem Ruf folgten, mussten fortan unter furchtbaren Bedingungen in den neuen Fabriken schuften und landeten in den Armenvierteln am Rande der Städte und der Gesellschaft. Eine Entwicklung, die besonders im damaligen Großbritannien ihren Lauf nahm. Aber Großbritannien war auch Technologievorreiter, und in London dachte man über den innerstädtischen Transport der Zukunft nach.
Während sich Techniker und Stadtplaner in ganz Europa noch darüber stritten, ob ein neues Transportmittel entweder auf eisernen Viadukten hoch über den Straßen oder besser in Tunneln im Untergrund fahren sollte, eröffnete am 10. März 1863 die Metropolitan Railway in London. Diese von Dampflokomotiven betriebene Eisenbahnstrecke verband unterirdisch die damals noch relativ weit außerhalb gelegenen Fernbahnhöfe Paddington, King’s Cross, St. Pancras und Euston mit dem Londoner Stadtzentrum. Doch der Fahrbetrieb im Untergrund mit Dampflokomotiven war noch nicht die perfekte Lösung. Am 4. November 1890 eröffnete in London die City and South London Railway und damit die erste elektrifizierte U-Bahn nach heutigen Vorstellungen.
Dies löste einen wahren Boom in Europas Metropolen aus. Jede Stadt wollte nun unterirdische Bahnen schaffen und damit die wachsenden Verkehrsprobleme lösen. In Berlin war Werner von Siemens, der bereits 1879 den Prototypen einer frühen Elektrolokomotive vorstellte, ein Vorreiter der Bewegung. Doch in Berlin konnte man sich noch nicht auf eine Hoch- oder Untergrundbahn einigen, und so eröffnete Werner von Siemens am 2. Mai 1896 im Budapester Stadtteil Pest die erste elektrische U-Bahn auf europäischem Festland, die sogenannte Millenniums-U-Bahn.
Pferde statt U-Bahn
Das Russische Imperium befand sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich noch im tiefsten Mittelalter. Während der Zar zu Gott betete und die Gesellschaft Sankt Petersburgs schweifende Ballabende feierte, vegetierte ein Großteil der Bevölkerung in dem weitgehend unerschlossenen Riesenreich vor sich hin. Doch auch in Russland wollten die Menschen der Armut entfliehen und strömten nach Moskau, welches bereits über eine Million Einwohner zählte.
Dort, wo der öffentliche Verkehr noch immer mit Pferdedroschken und Pferdebahn abgewickelt wurde, versuchten von der neuartigen U-Bahn begeisterte Ingenieure und Privatinvestoren das russische Parlament von der Notwendigkeit einer sowohl ober- als auch unterirdisch verlaufenden Stadtbahn zu überzeugen. Doch nicht nur die Russisch-Orthodoxe Kirche, die den Aushub heiliger Erde unter den Kirchen und Kathedralen verhindern wollte, protestierte vehement. Die Entscheidung zog sich über Jahre, Moskau zählte inzwischen über 2 Millionen Einwohner, und als man sich endlich grundsätzlich auf ein Projekt der Untergrundbahn geeinigt hatte, brach nur wenig später der erste Weltkrieg aus.
Die Zeit der unterirdischen Paläste
Erst nach der Oktoberrevolution kam wieder Bewegung in die Sache. Die Hauptstadt Sowjetrusslands war inzwischen Moskau, und Josef Stalin saß fest im Sattel als Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU. Dieses beschloss am 15. Juni 1935 endgültig den Bau einer leistungsfähigen Untergrundbahn für die Hauptstadt, die inzwischen über 3 Millionen Einwohner zählte. Die Organisation wurde dem extra hierfür gegründeten Staatsunternehmen Metrostroj übertragen, die Bauleitung oblag Lasar Kaganowitsch, dem damaligen Verkehrsminister der UdSSR und engem Vertrauten Stalins. Durch einen riesigen Propagandaerfolg mobilisierte Kaganowitsch Massen an Arbeitskräften für den Metrobau. Trotz der zeitlich sehr engen Terminvorgaben war der Anspruch an die Metro: „Mehr noch als alle Theater und Paläste wird die Metro unseren Geist anregen und erhellen!“ Stalin forderte nicht weniger als den Bau der „besten und schönsten Metro der Welt.“ Am 15. Mai 1935 eröffnete die erste sowjetische U-Bahn-Linie zwischen den Stationen Sokolniki und Park Kultury.
Die Zeit der „Unterirdischen Paläste“, wie die frühen Metrostationen bis heute bezeichnet werden, endete mit dem Tod Stalins 1953. Sein Nachfolger Nikita Chruschtschow befahl Sparsamkeit beim weiteren Metrobau. Der sowjetische Modernismus erreichte die Architektur. U-Bahn-Systeme aber entstanden jetzt überall in der Sowjetunion.
Bis Mitte der 1970er Jahre besaßen bereits sieben sowjetische Großstädte eine U-Bahn, Moskau, Leningrad, Kiew, Tiflis, Baku, Charkow und Taschkent. Das usbekische Taschkent wurde 1966 von einem schweren Erdbeben erfasst, welches die Stadt beinahe vollständig zerstörte. Der Plan zum raschen Wiederaufbau der Stadt beinhaltete auch den Neubau eines Metrosystems, in diesem speziellen Fall unter Berücksichtigung des hohen Erdbebenrisikos. Die feierliche Eröffnung der Metro Taschkent am 6. November 1977 war eine große Ingenieursleistung, es war die erste Metro in Zentralasien.
Der steinige Weg zur U-Bahn von Almaty
Die Bevölkerungsentwicklung ließ auch im sowjetischen Alma-Ata den Wunsch nach einem modernen und effizienten Nahverkehrsmittel wachsen. Nach jahrelanger Planung, bei der man sich von den Erfahrungen in Taschkent beim Tunnelbau im Erdbebengebiet beeinflussen ließ, erfolgte im September 1988 der erste Spatenstich für die zukünftige U-Bahn. Doch kurz nach Beginn der Bauarbeiten zerbrach die Sowjetunion 1991 und Kasachstan erklärte seine Unabhängigkeit. Es mag paradox klingen, doch im unabhängigen Kasachstan, in dem die neue Landeswährung Tenge katastrophal abstürzte und sich schon bald eine fürchterliche Wirtschaftskrise ankündigte, genoss die Metro Alma-Ata noch in den Jahren 1992 und 1993 die beste Finanzierung. Doch der Bau verlangsamte sich mehr und mehr, immer größer werdende finanzielle Schwierigkeiten bremsten die Metro aus.
Den vermeintlichen Todesstoß bekam das Projekt mit der Entscheidung, die Hauptstadt 1997 aus Almaty nach Aqmola, dem heutigen Nur-Sultan, zu verlegen und den dortigen Regierungsbaustellen Vorrang einzuräumen. Doch obwohl die Metrobaustelle in Almaty gegen Ende der 1990er Jahre praktisch zum Erliegen kam, wurde sie nie komplett aufgegeben. Und so kam bald die Wende. Kasachstans Wirtschaft erlebte unter anderem aufgrund reicher Rohstoffvorkommen einen Aufschwung, und es fanden sich neue Finanzierungsmöglichkeiten und auch ausländische Investoren, um das erste, sich seit 1988 in Bau befindliche Teilstück zu beenden. Am 1. Dezember 2011 wurde die U-Bahn von Almaty, als erste und bislang einzige in Kasachstan und als zweite in Zentralasien, nach mehr als 23 Jahren Bauzeit mit sieben Stationen eröffnet.
Folkloristisches Erscheinungsbild, moderne Ausstattung
Es ist eine Besonderheit der U-Bahn von Almaty, dass, obwohl sie erst im Jahr 2011 eröffnet wurde, sie starke Anklänge an ehemals sowjetische Metrosysteme besitzt. So fallen die wuchtigen, glänzenden, kunstvoll ausgestatteten Stationen auf, die oftmals berühmten Persönlichkeiten der kasachischen Folklore gewidmet sind. Man könnte selbst hier fast wieder von „Palästen im Untergrund“ reden. Eine Besonderheit sind jene Stationen, die aufgrund der Erdbebengefahr, aber auch aufgrund des bergigen Geländes der Stadt teilweise in sehr großer Tiefe liegen. 2015 wurden zwei weitere Stationen eröffnet, und noch bis Ende 2021 sollen wiederum zwei Stationen folgen. Von ihrer klassischen Erscheinung abgesehen ist die Metro aber hochmodern und mit allen relevanten Sicherheitsmerkmalen, und auch zum Beispiel inzwischen mit kostenlosem WLAN
ausgestattet.
Die Züge stammen nicht aus ehemals sowjetischer Produktion, sondern von dem südkoreanischen Hersteller Hyunday-Rotem. Was die sowjetische Planung betrifft, so bleibt die heutige Metro weit hinter ihrer Effizienz zurück. In vielen Städten der Sowjetunion waren die U-Bahnen mit drei sich im Dreieck kreuzenden Linien geplant. Ein solches Streckennetz würde das Stadtgebiet besonders gut abdecken und strategische Umsteigepunkte wie Bahnhöfe leicht erreichbar machen. Der ursprüngliche Streckenplan aus den 1980er Jahren sieht auch für Almaty ein solches Linien-Dreieck vor, aber darauf werden sich die Bürger von Almaty noch lange gedulden müssen. Eine U-Bahn zu bauen, dauert viele Jahre und Jahrzehnte, und auch das nur, wenn es keine finanziellen oder sonstigen Schwierigkeiten gibt.
Und heute?
U-Bahnen gehören heute zu den etablierten Nahverkehrssystemen in den Metropolen der Welt. Sie sind schnell, effizient, in der Regel gut zu erreichen und zu erschließen, wenn auch ab und an etwas überfüllt. Die Metro von Moskau gehört auch heute wieder zur Weltspitze, sie gehört zu den U-Bahnen mit den am tiefsten gelegenen Stationen und befördert jährlich weit über 2,5 Milliarden Fahrgäste. Davon ist die kleine Metro Almaty weit entfernt. Aber was nicht ist, kann ja irgendwann noch werden. Und ein kurzer Abstecher in unterirdischen Kathedralen Almatys lohnt sich in jedem Fall auch heute schon.