Interview mit der Gesellschaft der Gehörlosen in Almaty

In Kasachstan leben mehr als eine halbe Million Menschen mit einer starken oder teilweisen Beeinträchtigung des Hörsinns. Als Behinderung gilt die Gehörlosigkeit jedoch keineswegs. Vielmehr sind seitens der Betroffenen kulturelle und sprachliche Aspekte wesentliche Elemente der Identität. Welche Lehren können wir für uns als Gemeinschaft schöpfen?

Über Vorurteile, Stigma und den Kampf um Anerkennung

Obwohl die Gebärdensprache auf keinen Lauten basiert, ist sie ein effektives Mittel der Verständigung, in der Gefühle ausgedrückt und künstlerische Vielfalt ausgelebt wird. Es gibt nicht „die eine“ Gebärdensprache. Vielfältig wie gesprochene Sprache, Kasachisch oder Deutsch, unterscheiden sich Gebärdensprachen in vielen Aspekten von Augenbrauenbewegungen bis zum Einsatz einer oder beider Hände. Die Gebärdensprache in Kasachstan ähnelt denen anderer Gemeinschaften in den Ländern der ehemaligen Sowjetrepubliken – sie ist ein Dialekt unter vielen. In Kasachstan koexistieren zwei Sprachvarianten. Während sich eine Variante an der Struktur der gesprochenen kasachischen Alltagssprache orientiert, übersetzen die Kasachische Gebärdensprache und die Kasachisch-Russische Gebärdensprache ganze Konzepte von Gedanken im jeweiligen Kontext.

Selbstverständlich ist die Gebärdensprache in jeder Variante ein konstituierendes Element der Selbstwahrnehmung. Auch wenn das Vorurteil, gehörlose Menschen seien beeinträchtigt, weit verbreitet ist, sehen sich viele Betroffene als sprachliche und kulturelle Minderheit an, die längst ihre eigene(n) Kultur(en) etabliert hat. Anders als zum Beispiel blinde Menschen, erkennt man Gehörlose nicht am Aussehen. Heutzutage können Implantate gehörlosen Menschen das Hören nach einer komplizierten Operation ermöglichen, dennoch stemmen sich viele dagegen.

Indem wir uns näher mit der Geschichte der Gehörlosen und -beeinträchtigten in der Sowjetunion beschäftigen, lernen wir mehr über Sprache und Kommunikation, über Kollektive und Individuen – und damit über uns selbst. Ihre Geschichte ist ein Kampf um Emanzipation und Gruppenfügung, zwischen Inklusion und Exklusion.

Gehörlos in der Sowjetunion

Die Allrussische Gesellschaft der Gehörlosen (VOG), eine von Gehörlosen geführte Organisation, wurde 1926 gegründet, um Dienstleistungen für Gehörlose und eine Plattform des Austausches anzubieten. Diese Organisation, die später mehrfach umbenannt wurde, sollte für die Dauer des Bestehens der Sowjetunion eine zentrale Rolle im Leben der Gehörlosen spielen. Die Gebärdensprache („mimik“) wurde, wie auch in einigen europäischen Ländern, nicht als eigenständige Sprache anerkannt. Durch den Druck der VOG wurde sie jedoch später als kommunikatives, identitätsstiftendes Mittel der Kommunikation anerkannt und bewusst von der Sowjetpropaganda genutzt.

Gehörlosigkeit wurde nicht unbedingt mit einer schweren Behinderung gleichgesetzt – im Bergbau oder beim Weizenpflügen standen die Betroffenen ihren Kollegen in nichts nach. Viel mehr halfen staatlich geförderte Übersetzer in Fabriken, dem Gerichts- und Medizinwesen dabei, gehörlose Menschen in Fabriken und an anderen Arbeitsplätze an ihre Aufgaben heranzuführen. Das gesellschaftliche Stigma der „Unkultiviertheit“ und des „Defekts“ haftete tauben und insbesondere taubstummen Menschen dennoch lange an – bis heute. Die Politik des Sowjetstaats marginalisierte ethnische und gesellschaftliche Minderheiten, wozu auch z.B. alleinstehende Mütter gehörten.

Interessenskonflikt

Wichtig anzumerken sei die Entwicklung der Interessen der gehörlosen Gemeinschaft. Während sie im Russischen Kaiserreichs weitgehend unterdrückt und in der Zeit der Übergangsregierung nach der Februarrevolution umgangen wurde, brachte die Oktoberrevolution 1917 Mittel zur Selbstbestimmung mit sich. Mit der bolschewistischen Machtübernahme befreiten sich auch hörbehinderte Menschen von der Vormundschaft. Nun brachten die staatlichen Subventionen durch die Kommunistische Partei eine Stärkung der Bildungsmöglichkeiten für Gehörlose mit sich – eine Abkehr von der Abhängigkeit von Spendengebern und Wohlfahrt.

In ihrem 2017 erschienen Buch „Deaf in the USSR: Marginality, Community, and Soviet Identity“ schildert die US-amerikanische Historikerin Claire Shaw die Geschichte der Gehörlosen in der Sowjetunion aus einem retrospektiven Winkel. Von der Ambivalenz zwischen individueller Kultur und dem angeblich höheren Gut einer Erfüllung gemeinsamer Ziele durch gesamtgesellschaftliche Anstrengungen waren nicht nur ethnische Minderheiten in der Sowjetunion betroffen. Oberflächlich reflektierte sich in dem Spannungsgewölbe Sowjetisch-Sein und Gehörlosigkeit ein Kulturkampf.

Gehörlose waren gleichwohl der Auffassung, gesellschaftliche Anerkennung sei nur gemeinsam, d.h. in Zusammenarbeit mit einer Gemeinschaft von Gehörlosen, zu bewerkstelligen. Das Dilemma reflektiert sich im Interessenkonflikt: Während das dominierende Narrativ des „Sowjetisch-Seins“ der Gemeinschaft eine Richtung vorgab, leitete dies gleichwohl einen Prozess der Selbsterkenntnis und des Selbstverständnisses ein.

Einen springenden Punkt für die Identitätsbildung stellte ausgerechnet die rein medizinische Herangehensweise durch das Volkskommissariat für Bildung in der UdSSR dar. Die Unterteilung in einzelne Gruppen Gehörloser verstärkte einerseits das Gruppenbewusstsein untereinander und verbesserte andererseits die pädagogischen Methoden für die Ausbildung der Gehörlosen. Anders als in europäischen Ländern war die Einbeziehung des Oralismus, also der lautsprachlichen Erziehung, in Kombination mit Gebärdensprache ein wesentlicher Teil der Gehörlosen-Bildung.

Alltag für Gehörlose in Almaty

Allein in Almaty leben über zehntausend Menschen mit einer Beeinträchtigung des Gehörs. Ten Qogam, ein Zentrum für soziale Unterstützung, hilft bei der Anpassung an die Gesellschaft, bietet psychologische und rechtliche Unterstützung und hilft beim Erlernen von Fähigkeiten für den Alltag. Das erste Ten Qogam wurde 2020 in Almaty eröffnet. Heute gibt es im ganzen Land 24 Spezialschulen für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen, zwei davon in Almaty. Die Absolventen haben die Möglichkeit, eine weiterführende Ausbildung an drei Hochschulen oder der Akademie für Tourismus und Sport zu erwerben.

Interview mit der Gesellschaft der Gehörlosen in Almaty

Die Gesellschaft der Gehörlosen in Almaty wurde im Jahr 1937 offiziell als Zweigstelle der Kasachischen Gesellschaft der Gehörlosen (KGG) gegründet. Dort konnten sich Gehörlose in künstlerischen Vereinigungen ausleben und eine Gemeinschaft finden. Dem Verein gehören heute etwa dreitausend Menschen an. Der KGG organisiert regelmäßig Veranstaltungen und Festivals, deren Ziel es ist, das kulturelle Angebot ihre Mitglieder und deren Familien auszuweiten.

Die Mitglieder der KGG bevorzugen meist herrschen leichte Formen des Theaters – wir bieten vor allem kleine Theaterszenen, Gestenlieder, Clownerie oder Tanz an“, sagt die Gesellschaft der DAZ.

„Wir möchten, dass die Öffentlichkeit uns besser versteht und akzeptiert. In unserem Land wird den Sehbehinderten und Rollstuhlfahrern viel Aufmerksamkeit geschenkt. Gehörlose Menschen erhalten aber noch zu wenig staatliche Unterstützung; wir kämpfen zum Beispiel seit vielen Jahren für die Anerkennung der Gebärdensprache auf staatlicher Ebene, damit die Gebärdensprache einen eigenen Status erhält und wir mit staatlicher Unterstützung erfolgreicher gegen den Analphabetismus unter den Gehörlosen vorgehen können.“

Lehren über Kultur und Selbstwahrnehmung

Statt sich der Unterschiede zu vergewissern, sollen gemeinsame Elemente uns verbinden. Die Gebärdensprachen stehen den gesprochenen Sprachen in nichts nach. Es lohnt sich also, aktiv den Kontakt zu gehörlosen Menschen zu suchen, ihre Gesten zu lernen, die Veranstaltungen der KGG aufzusuchen und ihre Kunst auf uns wirken zu lassen – denn letztlich eint uns das mehr, als es uns trennt.

Anton Genza

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