Gemeinsam mit Diana Dingeldein vom Haus der Heimat begleitete Edwin Warkentin, der Leiter des Kulturreferats der Russlanddeutschen am Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, eine Exkursionsgruppe von Lehrkräften auf einer Reise über mehrere Stationen durch Kasachstan. Im Gespräch mit uns lässt er die Eindrücke dieser Reise Revue passieren.

Edwin Warkentin wurde 1981 in Temirtau im Süden Kasachstans geboren. Als Sohn des bekannten Schauspielerpaares Peter und Maria Warkentin kennt er die Geschichte des deutschen Theaters in Kasachstan von klein auf. Dieses wurde zunächst in Temirtau gegründet und siedelte 1989 nach Almaty um. Die Familie folgte dem Theater und zog ebenfalls um in die damalige Kulturhauptstadt Zentralasiens. „Meine Kindheit habe ich buchstäblich in den Wänden des deutschen Theaters verbracht“, erzählt er ehrfürchtig. Eine entsprechende Besonderheit war für ihn daher auch der aktuelle Besuch in Almaty, denn 1994 war die Familie im Rahmen der Spätaussiedlung nach Deutschland übergesiedelt.

Heute lebt Edwin mit seiner Familie in Detmold, nahe Bielefeld. Als Leiter des Kulturreferats für Russlanddeutsche ist die Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur sein beruflicher Alltag. Das Referat wird vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert.

Mit seinem erfolgreichen Podcast „Steppenkinder. Der Aussiedler-Podcast“, den er gemeinsam mit Ira Peter betreibt, behandelt er Themen rund um die Russlanddeutschen und macht deren Geschichte und Gegenwart einem breiten Publikum zugänglich.

In zwei Wochen durch Kasachstan

Auf der knapp zweiwöchigen Reise mit einer Gruppe von Lehrkräften aus Süddeutschland sammelte auch Edwin viele eindrückliche Erlebnisse. Die Spuren der Deutschen in Kasachstan sind bis heute sichtbar. Besonders beeindruckend war für die Gruppe der Besuch in der Siedlung Rozhdestwenka, heute Kabanbaj Batyr, südlich der Hauptstadt Astana. 1895 von Wolgadeutschen gegründet, gilt sie als die älteste deutsche Siedlung des Landes.

Prägend waren die sichtbare interethnische Harmonie und kulturelle Symbiose im Stadtbild. Das Gebäude der örtlichen Moschee war einst eine evangelische Kirche, und davor, so erzählt man sich, stand dort ein Kaufmannshaus im altrussischen Stil, erbaut von wohlhabenden Wolgadeutschen. „Wir kamen gerade zum Freitagsgebet an. Als der Imam unsere deutsche Gruppe sah, war es ihm ein Anliegen, über die Geschichte des Ortes zu sprechen. Mit großem Respekt erzählte er von den Deutschen Kasachstans“, schildert Edwin bewegt.

Diese positiven Erinnerungen spiegeln sich auch in dem gut gepflegten deutschen Friedhof in Kabanbaj Batyr wider. Grabsteine mit deutschen Bibelversen und über 100 Jahre alten Kreuzen berührten die Gruppe tief. Ebenfalls dort befindet sich das Mausoleum des kasachischen Volkshelden Kabanbaj Batyr, der im 18. Jahrhundert den Überfall der Dsungaren abwehrte. Der Ort symbolisiert auf eindrucksvolle Weise das Nebeneinander verschiedener Kulturen.

„Dieser Mix ergibt eine unglaubliche Magie“, so Edwin. Einer der Geistlichen habe mit Hochachtung über die Deutschen gesprochen und den kulturellen Austausch hervorgehoben. Seine aufrichtige Trauer darüber, dass so viele Deutsche das Land verlassen haben, sei spürbar gewesen. Als die Gruppe zudem die wolgadeutsche Mundart hörte, erinnerten sich einige Teilnehmende an entfernte Verwandte. Das war ein Moment, der das Band zwischen beiden Ländern spürbar stärkte.

Die Krönung der Kulturreise war jedoch wohl die schier grenzenlose Vielfalt der wunderbaren Landschaften, die Erfahrungen in der Natur, wie auch die vielen Nationalparks in der Steppe. Auf dieser kurzen Reise erhielten die Berufspädagogen einen konzentrierten, intensiven Eindruck des Landes. Ganz ohne anfängliche Erwartungen an das ihnen unbekannte Land, waren sie verblüfft von der Bandbreite an Sehenswürdigkeiten, die Kasachstan zu bieten hat. Einige begannen bereits, Pläne für eine Rückkehr zu schmieden.

36 Jahre später

Edwins letzter Besuch in Kasachstan lag über zehn Jahre zurück, 2013 kam er im Rahmen einer Dienstreise nach Astana. Doch diesmal hatte er mehr Zeit, sich ein Bild zu machen. „Die Hauptstadt ist spannend und modern, aber nicht repräsentativ für das ganze Land. Wer nur Astana kennt, hat Kasachstan nicht wirklich gesehen“, stellt er fest.

Besonders bewegend war sein privater Besuch in der Geburtsstadt Temirtau, die er seit 1989 nicht mehr betreten hatte. Die Industriestadt hat ihren ganz eigenen Charme. „Ich habe so herzliche Menschen getroffen. Nach zwei Tagen war es, als würde ich sie schon ein halbes Leben kennen. Die ehrliche Freude über meinen Besuch hat mich tief berührt.“ Auch die Suche nach dem Grab seines Großvaters gestaltete sich unerwartet erfolgreich. „Es schien, als würde ich die Nadel im Heuhaufen suchen. Doch die Hilfsbereitschaft der Menschen war enorm und wir fanden das Grab schon am ersten Tag. Es war wie ein Wunder.“

Die tiefe Verbundenheit zu Kasachstan

Die Frage nach der eigenen Identität ist nie leicht, besonders, wenn man zwei Länder sein Zuhause nennt. „Als Jugendlicher war ich fasziniert von der kasachischen Kultur. Mit zwölf sah ich den ‚Goldenen Menschen‘, das hat mein Interesse für Archäologie geweckt. Ich fühle mich den Menschen hier sehr verbunden. Jede neue Facette des Landes bestärkt mich in meiner Arbeit“, erzählt Edwin.

„Im Laufe des Lebens bekommt man mehrere Identitäten. Für mich war immer klar: Ich komme aus Kasachstan, nicht aus Russland“, beschreibt er weiter seinen Findungsprozess. Gerade im Kontext der russlanddeutschen Geschichte sei das schwer zu vermitteln, ohne tief in die Geschichte einzusteigen.

Daher ist es umso wichtiger, dass nachfolgende Generationen von Spätaussiedlern in Deutschland ihre Migrationsgeschichte reflektieren. Lange war die Gruppe der Russlanddeutschen in der öffentlichen Wahrnehmung unterrepräsentiert. Erst seit rund zehn Jahren wächst das Interesse an deren Schicksal. Junge Menschen mit deutschen Wurzeln aus der ehemaligen Sowjetunion gehen heute offener mit ihrer Herkunft um. Ein neues Bewusstsein entsteht.

Trotzdem fehlen die Themen wie etwa der Vertreibung der Deutschen oder die Geschichte der deutschen Minderheiten im Ausland im schulischen Lehrplan. „Lehrer sind oft selbst unbeholfen und hilflos. Es hängt stark von den einzelnen Lehrern ab, wie motiviert sie sind, dieses komplexe Thema in den Unterricht zu bringen“, stellt Edwin fest.

„Diese Reise war ein wichtiger Impuls. Sie zeigt, wie Lehrkräfte ermutigt werden können, junge Menschen für diese Geschichte zu sensibilisieren. Denn am Ende betrifft es nicht nur die Russlanddeutschen, sondern deren Geschichte ist ein wesentlicher Teil einer gemeinsamen deutschen Erinnerungskultur“, merkt mein Gesprächspartner zum Abschluss an.

Anton Genza

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