Interview mit Galina Nurtasinowa, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutsch-Kasachischen Gesellschaft e. V. in Berlin

Frau Nurtasinowa, zum 175. Geburtstag des Nationaldichters Abai fanden in Kasachstan zahlreiche Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe statt. Wie gut ist Abai in Deutschland bekannt?

In der Tat, in Kasachstan kennt wohl jeder Abai Kunanbajew. Der Dichter, Komponist, Pädagoge, Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, Begründer der kasachischen schriftlichen Literatur und ihr erster Klassiker hat in diesem Jubiläumsjahr wieder große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Leider ist er im Ausland viel weniger bekannt. Deshalb hat Präsident Kassym-Shomart Tokajew mit seinen jahrelangen diplomatischen Erfahrungen bei der UNO in seinem Artikel „Abai und Kasachstan im 21. Jahrhundert“ auf die unzureichende Verwendung von Abais Namen und Vermächtnis bei der Förderung Kasachstans in der Welt hingewiesen und die Ausgabe des Gesamtwerkes in zehn Weltsprachen angeregt.

Im Abai-Jahr 2020 wurde viel getan, um die Werke des kasachischen Klassikers im Ausland zu verbreiten, vor allem, um sie in anderen Sprachen neu zu lesen. Hauptakteure hierbei waren die Botschaften und Konsulate. Weltweit veranstalteten sie Lesungen, Filmvorführungen und andere Würdigungen. In Deutschland hat die Deutsch-Kasachische Gesellschaft aktiv daran teilgenommen; seit ihrer Gründung 1997 beschäftigt sie sich mit dem Werk von Abai.

Dazu gehört sicherlich die Benennung einer Straße in Berlin nach Abai?

Eröffnung des Abai-Hauses in Berlin

Leider nur wenige wissen, dass es in Berlin seit 2000 eine Abai-Straße gibt. Die Meisten erfahren davon, wenn sie die Botschaft von Kasachstan besuchen, denn sie grenzt direkt an das Territorium der Botschaft. Dank dessen, dass diese Straße noch keinen Namen hatte, gelang es dem damaligen kasachischen Botschafter Erik Asanbajew, die zuständigen Behörden des Stadtbezirks Berlin-Pankow zu dieser Namensgebung zu bewegen. Dabei wurde er vom damaligen Bürgermeister von Berlin-Pankow, Alex Lubawinski, unterstützt. Wichtig war natürlich auch die Tatsache, dass Abai Goethes berühmtes zweites „Wanderers Nachtlied“ („Über allen Gipfeln ist ruh …“) ins Kasachische übersetzt hat. In einem Denkmal in Ost-Kasachstan befindet sich eine Granitplatte, in die dieses poetische Meisterwerk auf Deutsch, Russisch und Kasachisch eingemeißelt ist. Abai hatte es ja über Lermontows Übersetzung ins Russische kennengelernt. Und Abais vertonte Übersetzung wurde, wie auch viele seiner anderen Verse, zum Nationallied.

Eingeladen zu den Feierlichkeiten anlässlich der Umbenennung war auch der kasachische Schriftsteller Kalmuchan Issabajew…

Teilnehmer einer Abai-Konferenz im Online-Format

Richtig. Während des Zweiten Weltkrieges war er mit den Truppen der Roten Armee bis nach Thüringen gelangt. Nach Kriegsende war er neun Jahre lang Kommandant der Goethe- und Universitätsstadt Ilmenau. 1979 verwirklichte er seinen langgehegten Traum und schenkte dem dortigen Goethe-Museum eine Marmorplatte mit Abais Übersetzung von „Wanderers Nachtlied“ sowie eine Tonbandaufnahme des Liedes „Караңғы түнде tau kalғyp“. Das ursprüngliche Gedicht hat übrigens in diesem Jahr auch ein Jubiläum: Am 6. September 1780, also vor 240 Jahren, saß Goethe in einer kleinen Jagdhütte mitten im Thüringer Wald, als ihm die Hände zu kribbeln begannen. Kurzerhand schnappte er sich einen Bleistift und schrieb die Zeilen an die Holzwand seiner Schlafstube.

Das trifft sich ja gut. Vorhin erwähnten Sie die Bemühungen, Abais Werke durch Übersetzungen in andere Sprachen weltweit bekannter zu machen. Bestimmt gibt es Ausgaben auf Deutsch?

Geschenk anlässlich der Eröffnung des Abai-Hauses

Abais Name wurde in Deutschland erstmals durch den Roman „Abais Weg“ von Mukhtar Auezov bekannt, der in der DDR im Verlag „Volk und Welt“ erschien. Im wiedervereinigten Deutschland erschienen Abais Gedichte erstmals 2007 in der von der kasachischen Botschaft initiierten Reihe „Kasachische Bibliothek“. Der renommierte Übersetzer und Literaturkritiker Leo Kossuth übersetzte Abais Worte der Ermahnung (in Zusammenarbeit mit Gerold Belger) aus dem Russischen ins Deutsche und veröffentlichte 2018 eine deutschsprachige Sammlung von Abais Gedichten mit dem Titel „Zwanzig Gedichte“. Leo Kossuth ist wahrlich ein „Axakal“ der Übersetzung, denn er war dreißig Jahre lang Chefredakteur für sowjetische Literatur beim Verlag „Volk und Welt“ in Ost-Berlin. Sein Freund Olschas Suleimenow vertraute ihm die Übersetzung und Veröffentlichung seiner Gedichtsammlung „Azimut“ an. Am 14. September 2020 überreichte der kasachische Botschafter in Deutschland, S. E. Dauren Karipow, dem 86-jährigen Übersetzer den Dostyk-Orden II. Klasse.

Gibt es auch direkte Übersetzungen aus dem Kasachischen ins Deutsche?

Bücher im Abai-Haus

Ja, gibt es. Im Herbst 2020 erschien im Hirnkost-Verlag unter dem Titel „ABAI (Ibrahim Kunanbayev). Gedichte. Poeme. Worte“ die vorhin erwähnte Gesamtausgabe. Der 512 Seiten starke Band enthält ein Vorwort von Präsident Tokajew, die Auflage beträgt 3.000 Exemplare. Almachambet Turechanow und Tansulu Rakhimbayeva haben zunächst wortwörtlich übersetzt. Die Nachdichtung unternahm Anja Tuckermann, eine deutsche Journalistin und Autorin von Romanen, Erzählungen und Theaterstücken. Übrigens besitzen alle zehn Ausgaben ein einheitliches polygraphisches Design und ein Porträt von Abai von Dauren Kasteev, Enkel des berühmten kasachischen Künstlers Abilkhan Kasteev, des Namensgebers des Nationalen Kunstmuseums in Almaty.

Welche Veranstaltungen gab es im Abai-Jahr 2020 in Deutschland?

Wegen der Corona-Pandemie war und ist das gesellschaftliche Leben in diesem Jahr auch in Deutschland monatelang zum Erliegen gekommen. Deshalb hat die Deutsch-Kasachische Gesellschaft im Juli eine Online-Konferenz zum Gedenken an den großen Dichter mit organisiert, ich selbst habe moderiert. Sie brachte Menschen aus Kasachstan, Deutschland, den Niederlanden, Österreich und Amerika zusammen. Online-Konferenzen fehlt es natürlich an der persönlichen Begegnung – andererseits können viele Menschen teilnehmen, die nicht hätten persönlich anreisen können.

Das klingt nach einer außergewöhnlichen Breite der Themen?

Ja, das stimmt. Die facettenreiche Persönlichkeit Abais spiegelte sich in den wissenschaftlichen Betrachtungen ebenso wider wie in den Versen und Liedern, die in verschiedenen Sprachen vorgetragen wurden. Es gab Grußworte von Herrn Dauren Karipov, Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter von Kasachstan in Deutschland, Herrn Magauja Sarbasov, Vizepräsident der Gesellschaft „Otandastar“, und Herrn Alex Lyubawinski, ehemaliger Bürgermeister von Berlin-Pankow, der seine Erinnerungen an die vorhin beschriebene Benennung der Abai-Straße schilderte. Der Tenor Kairzhan Zholdybayev vom Theater Krefeld-Mönchengladbach und die Pianistin Indira Farabi trugen das Lied „Kozemnen Karasy“ vor.

Sagen Sie uns bitte mehr zu den einzelnen Beiträgen.

Aktolkyn Kulsarieva, Kulturwissenschaftlerin und Prorektorin der Kasachischen Nationalen Pädagogischen Abai-Universität, sprach über die Verantwortung, die der Name des großen Dichters dem Bildungsprozess an dieser Hochschule auferlegt. Yulai Shamiloglu von der Nazarbayev-Universität teilte seine Überlegungen über die intellektuelle Bildung von Abai und den Einfluss der religiösen Denker von Vsotok auf ihn mit. Die Linguistin Gulsum Masakova aus München berichtete über ihre Erfahrungen mit der Verwendung von Abais Werken im Unterricht der kasachischen Sprache an der Humboldt-Universität.

Welche persönlichen Erinnerungen wurden vorgetragen?

Die Orientalistin und Übersetzerin Zifa Auezova, Enkelin des Schriftstellers Mukhtar Auezov, betonte in ihrem Bericht, dass Abai und Auezov untrennbare Figuren aus verschiedenen Zeiten seien. Abais Persönlichkeit machte in seiner Kindheit einen großen Eindruck auf Auezov. Mit etwa 5-6 Jahren hatte er die Gelegenheit, den großen Dichter persönlich zu sehen. Seine Großeltern brachten den Jungen zu dem damals kranken Abai, um ihn segnen zu lassen. „Die Größe des Mannes des Wortes erfasste den [zukünftigen] Schriftsteller … Wie bewahrt man die fragile Welt der Sprache eines Nomadenvolkes? – Mukhtar Auezov hat diese Frage geklärt. Nach ihm folgte die Schule der Abai-Forschung“, sagte sie.

Das war sicher ein ganz bewegender Moment für Ihre Konferenz?

Ja, natürlich!

Auf Ihrer Konferenz gab es sicher weitere originelle Vorträge?

Die deutsche Historikerin Beate Eschment, die österreichische Politikerin Kristina Muttonen und der Musiker und Komponist Ervin Muntaniol erzählten über ihr Verhältnis zu den Werken Abais. Ich habe daran erinnert, dass Präsident Tokayev im vorigen Jahr die Initiative der neunjährigen Schülerin Lyailim Shyrak aus Nur-Sultan unterstützt hat, Gedichte von Abai im Internet vorzutragen. Der berühmte Sänger Dimash Kudaibergen nahm den Staffelstab auf, gefolgt von seinen Fans in aller Welt. Im Internet befinden sich jetzt zahlreiche Videoaufnahmen, in denen Verse des großen Abai von ihnen vorgelesen werden. Laut Vertretern des Multikulturellen Fanclubs Dimashs, die an der Konferenz teilnahmen, ist dadurch das Interesse an der Kultur Kasachstans, an der kasachischen Sprache enorm gewachsen. Zum Beispiel werden Artikel und andere Materialien im Internet in viele Sprachen übersetzt und haben viel Resonanz. Das bedeutet, dass Abai immer mehr Teil der Weltkultur wird.

Vorhin erwähnten Sie die fortdauernde Beschäftigung Ihrer Gesellschaft mit dem Werk Abais, schildern Sie uns bitte kurz mehr hierüber!

Die Deutsch-Kasachische Gesellschaft macht seit ihrer Gründung vor mehr als 20 Jahren breite Kreise in Deutschland mit der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung Kasachstans bekannt. Dazu gehört selbstverständlich die Popularisierung des Schaffens von Abai. Mit finanzieller Unterstützung unserer Gesellschaft wurde Mukhtar Auezovs Roman „Abais Weg“ neu übersetzt, es fanden Treffen mit Übersetzern und dem Schiler-Verlag statt, und immer wieder wurden Lieder und Gedichte von Abai auf unseren Veranstaltungen vorgetragen, zuletzt auf unserer Online-Konferenz im Juli 2020, über die wir gerade gesprochen haben.

Zum Abschluss des Abai-Jahres haben Sie eine zweite Web-Konferenz organisiert.
Ja, am 6. Dezember, und zwar zum Thema „Abai in der Grafik von Isatai Isabaev (1936 – 2007)“. Unser Webinar zeigte am Beispiel von Werken dieses herausragenden kasachischen Künstlers, Grafikers und Designers den Einfluss Abais auf die visuelle Kunst Kasachstans. Anlass hierfür war, dass die Jubiläumsausgabe der Werke Abais keine Illustrationen enthält, obwohl Abai und sein Werk viele kasachische Künstler anspricht. Aliya Nagornyuk, die literarische Herausgeberin der neuen russischen Übersetzung von Abais Werken, erklärt dies mit der Schwierigkeit, geeignete Illustrationen auszuwählen und dabei die stilistische Einheitlichkeit zu wahren, sowie mit den Wünschen anerkannter Abai-Gelehrter.

Vielleicht war diese Entscheidung angesichts der heutzutage geradezu exzessiven Visualisierung unseres Informationsraumes im Zeitaltes der Computergrafik sogar weise. Doch wenn man die Grafiken von Isatai Isabajew, einem der besten Illustratoren von Abais Werken, anschaut, versteht man, wie präzise und fein ein talentierter Illustrator das Nationalkolorit und das Leben der kasachischen Steppe vermitteln und somit helfen kann, in das Wesen und die Stimmung des Dichters einzudringen. Die Kunsthistorikerin Dilara Sharipova vergleicht Isabajews Werke mit Illustrationen von Akseli Gallen-Kallela zum finnischen Nationalepos Kalevala und mit Gemälden von Breughel! Dank der Teilnahme der Tochter des Künstlers, Aliya Isabayeva, und des Dekans der Fakultät für Bildende Künste an der Nationalen Zhurgenov-Akademie der Künste haben wir viel über die Persönlichkeit des Künstlers und seine spirituelle Verbindung mit Abai erfahren.

Ein wichtiges Ergebnis des Abai-Jahres ist fraglos die Eröffnung von „Abai-Häusern für Kultur und Wirtschaft“ in Russland, Usbekistan, der Türkei, der Ukraine und Deutschland…

Die Deutsch-Kasachische Gesellschaft hat diese Initiative von Anfang an aktiv unterstützt. Die Eröffnung des Abai-Hauses in Berlin fand am 1. November 2020 statt. Die epidemiologische Lage erlaubte es leider nicht, mehr als zehn Personen für dieses historische Ereignis zu versammeln. Jedoch konnte sie in allen Ländern der Welt online verfolgt werden. Trotz der ungewohnten Bedingungen gelang es, der Eröffnungsfeier eine festliche Atmosphäre und ein nationales Flair zu verleihen. Das symbolische Durchschneiden des roten Bandes wurde von den Klängen der Dombra und dem Shashu-Ritual (dem Überschütten von Süßigkeiten auf die Gäste) begleitet. Nach Grußworten aus der Hauptstadt Kasachstans durch die Otandastar-Stiftung, das Außenministerium und das Ministerium für Information und öffentliche Ordnung der Republik Kasachstan, den Weltverband der Kasachen und die Botschaft Kasachstans in Deutschland feierten die Gäste vor Ort mit Plov, Baursaki, Samsa und Koumiss made in Germany die Eröffnung des Zentrums für kasachische Sprache, Kultur und wirtschaftliche Zusammenarbeit in Berlin.

Das klingt alles sehr natürlich – wie aber kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Vor einem Jahr, im November 2019, hatte ich die Gelegenheit, das Forum der Kasachen im Ausland in Nur-Sultan zu besuchen und die Arbeit der Stiftung und ihrer Leitung besser kennenzulernen. Damals haben wir ein Memorandum über unsere Zusammenarbeit unterzeichnet. Ich freue mich sehr, dass unsere Zusammenarbeit im „Abai Uii“ mündet.
Der Name des Abai-Hauses, für Kultur und Wirtschaft zuständig zu sein, wirft die Frage auf, ob die deutsche Trennung von Goethe-Institut seitens des Auswärtigen Amtes einerseits und von Außenhandelskammern andererseits noch zeitgemäß ist?
Da mögen Sie recht haben. Die Abai-Häuser arbeiten mit den jeweiligen kulturellen und wirtschaftlichen Einrichtungen vor Ort zusammen und können Synergien nutzen.

Vielen Dank, Frau Nurtasinowa, viel Erfolg für das Abai-Haus und für die Deutsch-Kasachische Gesellschaft!

Die Fragen stellte Peter Enders, Honorarprofessor an der Abai-Universität Almaty.

 

„Wanderers Nachtlied“

Қараңғы түнде тау қалғып,
Ұйқыға кетер балбырап.
Даланы жым-жырт, дел-сал қып,
Түн басады салбырап.
Шаң шығармас жол дағы,
Сілкіне алмас жапырақ.
Тыншығарсың сен дағы,
Сабыр қылсаң азырақ.

Über allen Gipfeln
Ist Ruh.
In allen Wipfeln
Spührest du
Kaum einen Hauch.
Die Vöglein schweigen im Walde…
Warte nur, balde
Ruhest du auch…

Горные вершины
Спят во тьме ночной;
Тихие долины
Полны свежей мглой;
Не пылит дорога,
Не дрожат листы…
Подожди немного,

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