Der Große Vaterländische Krieg spielt unbestritten die Hauptrolle im russischen Selbstverständnis. Aber auch andere historische Errungenschaften gewinnen an Bedeutung.
Das Volk mit den meisten Opfern sollte seinen Sieg im Zweiten Weltkrieg und all dessen Kehrseiten lange in Erinnerung behalten. Bis heute wird die Geschichte der Großeltern oder auch schon Urgroßeltern in den Familien erzählt, selbst wenn in zweiter, dritter Generation. Das Schicksal des Landes und vor allem die Einzelschicksale der Menschen, die letztlich bis Berlin kamen, sind bis heute Grundstein der russisch-sowjetischen Identität.
Der „Tag des Sieges”, der 9. Mai, ist bis heute der wohl bedeutendste historische Feier– und Gedenktag in und für Russland. Für Millionen von Menschen ist er Teil ihres Selbstverständnisses, ihrer Familiengeschichte. 76 Prozent der im Vorfeld der Feiertage vom Lewada-Zentrum befragten Russen gaben an, den «Siegestag» in diesem Jahr begehen zu wollen. Das sind 14 Prozent mehr als im Vorjahr und ist überhaupt der höchste Wert seit 2000.
Wie einst in antiken Tragödien durchleben die Russen alljährlich eine Art Katharsis, eine psychische Reinigung, wenn sie des Sieges über den Faschismus bei der großen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau oder der Schicksale ihrer Angehörigen beim „Unsterblichen Regiment” gedenken. Im Gedenken der Kriegsopfer und dem Stolz auf den Sieg ist sich das Land einig, egal ob Liberaler oder Putin-Fan, Verkäuferin oder Manager, ob in Moskau, Wladiwostok oder Grosny. Darin besteht auch das Konzept des Feiertags.
Das Gestern im Morgen
In diesem Jahr ist der Gedenk-Anlass nun schon 72 Jahre her. Vor zwei Jahren drehten sich die Vorbereitungen intensiv um den runden Jahrestag „70 Jahre Ende des Großen Vaterländischen Krieges”. Seitdem werden jedes Jahr immer wieder Stimmen laut, die sich fragen: „Und nun?” Die Zeit vergeht, Zeitzeugen schwinden. Die Frage drängt, wie man künftig diesen „Heldentag” begehen kann und sollte. Und ob es nicht vielleicht auch noch andere historische Epochen und Errungenschaften gibt, die nicht ebenso ihren Beitrag zum Selbstverständnis der Menschen leisten könnten. Womöglich auch ohne Krieg? Glaubt man einer weiteren Umfrage des Lewada-Zentrums, so liegt der Große Vaterländische Krieg zwar noch immer auf dem ersten Platz der für die Russen bedeutendsten historischen Ereignisse. Aber während 2008 noch 55 Prozent der Befragten dieser Meinung waren, sind es heute nur noch 38 Prozent – und der Abstand zu Platz zwei und drei, den Epochen Peter des Großen und der Kiewer Rus, ist deutlich geschrumpft. Gleichzeitig verdoppelte sich die Zahl derer, die sich für „nichts in der russischen Vergangenheit interessieren”.
Zwei Erinnerungen — zwei Gedenken?
Soziologen und Historiker suchen nach solchen weiteren, ergänzenden Anknüpfungspunkten in Russlands Geschichte, die dem Staat und der Gesellschaft mit ihren 193 Ethnien ein sicheres Fundament für die Zukunft bieten können. Dabei spricht beispielsweise die „Freie Historische Gesellschaft”, die über das ganze Jahr 2016 Interviews mit Historikern, Museumsvertretern, Journalisten und anderen Berufsgruppen führte, in ihrer Studie von „zwei Erinnerungen”. Einerseits werde die Heroisierung der Vergangenheit vom Staat zunehmend im Sinne einer zunehmend aggressiv wirkenden Politik genutzt.
Auf der anderen Seite habe sich eine Art „lokale Erinnerung” herausgebildet: Die Menschen wenden sich mehr und mehr der Vergangenheit ihrer Region und der eigenen Familie zu. Beide Erinnerungen existierten dabei parallel zueinander. Allein am 9. Mai treffen sie in Form der zwei großen Umzüge in Moskau und den Regionen aufeinander: die staatlich organisierte Siegesparade sowie das „Unsterbliche Regiment”, zu dem die Bürger selbst mit Porträts ihrer Vorfahren durch die Straßen ziehen.
Die Soziologin Darja Chlewnjuk beschreibt die „Zweite Erinnerung” als einen vom Krieg und seinen blutigen Seiten abgewandten Ansatz. Dieser wende sich zunehmend Errungenschaften in Bereichen wie Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zu. Dass dies ein vielversprechendes Konzept für Russland sein könnte, zeigt auch das Lewada-Ergebnis: So wurden als für die Russen interessante Geschichtsepochen das „Silberne Zeitalter“ in Literatur und Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die Zeit der wirtschaftlichen Stagnation unter Leonid Breschnew in den 70er und 80er Jahren genannt. Und auch Russlands Präsident Putin äußerte sich im vergangenen Jahr dazu: „Weder ein Land noch ein Volk dürfen nur in ihrer Vergangenheit leben und unendlich in ihren Heldentaten baden.“ Niemand will das Weltkriegs-Gedenken abschaffen. Die Zeit soll kein Gras über die Geschichte wachsen und keine Wunden heilen lassen. Vielmehr gibt sie die Möglichkeit, historische Identitäten zu erweitern und zu bereichern.