Die bekannte Einspruchsformel „der möge jetzt reden oder für immer schweigen“ scheint dieser Hochzeitskompanie fremd, denn hier werden alle Karten offen auf den Tisch gelegt. Der Zuschauer ahnt schon früh: dieser Abend ist zum Scheitern verurteilt.

Basierend auf den Werken Bertold Brechts „Die Kleinbürgerhochzeit“ (1919), „Baal“ (1919) und „Der gute Mensch von Sezuan“ (1940) legte das kasachisch-russische Theater Жас Сахна (zu dt. Neue Bühne) am vergangenen Wochenende die Premiere ihres Stücks Жених и Невеста (Bräutigam und Braut) hin.

Mit aller Vitalität des jungen Brecht tanzen und singen dabei die Charaktere ihren Weg über die Bühne, während allmählich die gutbürgerliche Fassade der Veranstaltung in sich zusammenbricht. „Mit scharfer Soße“ und viel Biss inszeniert Regisseur Owljakuli Chodschakuli dabei einen frühen Prototyp des epischen Theaters und zeitgleich den gesellschaftlichen Zerfall Deutschlands in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg.

Owljakuli Khodschakuli – eine Stammfigur des kasachischen Theaters

Berthold Brecht (1898 – 1956) ist nach wie vor einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des Theaters, der sich schon früh dem Sozialismus zuordnete und mit seiner „Dreigroschenoper“ (1928) in Zeiten der Weimarer Republik große Beliebtheit erlangt hatte. Fünfzehn Jahre lang im Exil, reiste Brecht von einem Land ins nächste, bis es ihn 1948 letztlich zurück nach Berlin verschlug, wo er wenig später verstarb.

Nun hat Brecht es im Alter von 126 Jahren mithilfe des renommierten Regisseurs Owljakuli Khodschakuli auch auf die Bühnen Kasachstans geschafft. Khodschakuli (geb. 1959) absolvierte 1986 die Regie-Fakultät des theatralischen Instituts in Taschkent und ist seitdem nicht nur in Zentralasien, sondern auch auf internationaler Ebene für seine tiefgreifende philosophische Herangehensweise und einzigartigen Interpretationen klassischer Werke bekannt. Diese wurden bereits auf Bühnen in England, Indien, Polen, Deutschland, Frankreich und andernorts aufgeführt.

Eine Hochzeit in Krisenzeiten…

Mit seiner pointiert zugespitzten Inszenierung des weniger bekannten Brecht-Klassikers „Die Kleibürgerhochzeit“ schafft es Chodschakuli ein weiteres Mal, Umstände der Vergangenheit in die Gegenwart zu projizieren und somit die Herzen der Zuschauer zu erobern. Weniges können die Kasachen wohl besser nachvollziehen als eine gute, alte Hochzeit in Zeiten von Chaos und Tumult: eine sich anbahnende Krise, allgemeine Unzufriedenheit in der Gesellschaft, die Vorahnung der Großen Depression und Geldscheine, die sich in Nichts aufzulösen scheinen.  Vor eben diesem geschichtlichen Hintergrund spielt sich die Hochzeit des jungen Brautpaars ab, welches seine Hochzeitsnacht so schnell wohl nicht vergessen wird.

… die selbst zur Krise wird.

Die provisorisch aussehende Hochzeitstafel, die der Ehemann selbst zusammengezimmert haben soll, erinnert dabei eher an das letzte Abendmahl – und so verhalten sich die Gäste auch. Als ob es ihre letzte Gelegenheit wäre, nehmen die Figuren kein Blatt vor den Mund, wenn schlecht verhüllte Seitenhiebe in Richtung des Brautpaars ausgeteilt werden.

Während das Mobiliar also in sich zusammenfällt – ähnlich wie so einige Beziehungen im Laufe des Abends – spitzt sich die Stimmung allmählich immer mehr zu. Der Vater der Braut kann seine humorlosen Anekdoten nicht für sich behalten, das befreundete Paar widmet sich selbst und seinen Streitereien mehr Aufmerksamkeit als den frisch liierten Eheleuten, und… was macht der junge Mann dort eigentlich mit der Schwester?!

Der Zusammenbruch der kleinbürgerlichen Gesellschaft

Der heimliche Star der Show ist jedoch der Fisch, der von der Mutter des Bräutigams zur Feier des Tages aufgetischt wird und sich zu einer Metapher für das „Mutterland“ entwickelt (wie genau, sollen die Leser dieses Artikels beim Theaterbesuch selbst rausfinden). Brechts Vision der deutschen Gesellschaft zu diesen Zeiten wird durch Anlehnungen an sozialistische Gedichtbände und nationalistische Parolen, von denen einige Figuren Gebrauch machen, wohl klar.

Die Evolution der musikalischen Untermalung und Tanzeinlagen betont nochmals den schon fast dionysischen Charakter des ganzen Abends. Der Zusammenbruch jeglicher bürgerlichen Moral findet seinen Höhepunkt schließlich in der gesungenen Performance von Bertolt Brechts „Keuschheitsballade in Dur“, die beim Publikum einerseits ungläubiges Lachen auslöst und andererseits durch seine Anzüglichkeiten die Hochzeitsgäste vollends empört.

Ein Theaterstück mit universellem Charme

Die Schauspieler gehen dabei in ihren jeweiligen Rollen vollends auf, denn Жених и Невеста ist nicht nur ein Stück, das dem Publikum Spaß macht. Ganz im Sinne von Brechts „epischem Theater“ bricht es weg von klassischen Strukturen und Praktiken der Darstellung. So wird der etwa zweistündige Einakter mit der Zeit immer abstrakter und expressionistischer, während seine Figuren immer wahnhafter und zum Ausdruck kontemporärer, gesellschaftlicher Konflikte werden, und erinnert somit schon fast eher an französisches Theater à la Yasmina Rezas Gott des Gemetzels.

Wieso nun eben dieses Stück im Kasachstan des einundzwanzigsten Jahrhunderts aufgeführt wird? Das kann man sich nur erdenken. Wahrscheinlich aus demselben Grund, warum es sich nach hundert Jahren auch noch auf deutschen Bühnen noch an Beliebtheit erfreut: „Es ist nun einmal echt!“, konnte man während der Pause einen Besucher sagen hören.

Daria Lysenko

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