Ein Horrorfilm über sexualisierte Gewalt, soziale Abhängigkeiten und zweifelhafte Hochzeitstraditionen lässt in Kasachstan die Kinokassen klingeln.
Wohl kein anderer Film in Zentralasien hat in letzter Zeit so viel Aufmerksamkeit erregt wie das düstere Horror-Drama „Dästur“ („Дәстүр“) des Regisseurs Kuanisch Beisekow. Schon eine Woche nach seinem Release nahm der im Ende Dezember erschienene Film 2,2 Millionen Dollar (1 Milliarden Tenge) ein – und bricht damit Rekorde in Kasachstan.
Auf ungewohnt direkte Art und Weise bezieht Dästur Stellung zu seit langem in der kasachischen Kultur verankerten Problemen.
Der Film handelt von der jungen Schulabsolventin Diana (Nuray Zhetkergen), welche auf dem Heimweg von ihrer Abschlussfeier überwältigt und vergewaltigt wird. Der Täter Bolat (Aldijar Zhaparkhanow) ist der verrufene Sohn eines erfolgreichen, im Dorf heimischen Unternehmers (Aldabek Shalbajew), dem auch der örtliche Bauernhof gehört.
Diana scheut sich nicht, die Straftat Bolats der Polizei zu melden, doch es kommt nicht zu einem Gerichtsverfahren. Denn obwohl beide Familien bestürzt reagieren, kommen sie letztlich doch zu dem Schluss, die Situation auf klassische Art und Weise zu lösen – mit einer Hochzeit. Kurz darauf verfällt der Haushalt der Familie Kopzhasarowitsch jedoch ins Chaos.
Reelle Konnotationen
Inmitten fast wöchentlicher Berichte von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch fand Dästur schnell Resonanz in der breiten kasachischen Gesellschaft. Das Motiv der Machtgefälle durchzieht den Film auf mehreren Ebenen, wobei Anspielungen auf reelle Sachverhalte sich auf recht offensichtliche Art und Weise dem Zuschauer offenbaren.
So heißt zum Beispiel der Vater des Täters Nursultan und drängt sein Gegenüber mit der Unterstützung des Bürgermeisters dazu, die Situation mithilfe von Geld zu lösen. Insgesamt 20 Millionen Tenge will Nursultan Dianas Vater geben – im Gegenzug dafür, dass die wahre Geschichte hinter der Zusammenkunft ihrer Kinder ein Geheimnis bleibt. Dianas Familie besteht im Gegensatz zu der von Bolat lediglich aus einfachen Arbeitern. Und so erscheint die Entscheidung ihres Vaters, das Angebot anzunehmen, im Lichte der in Kasachstan bestehenden Klassendynamiken und institutionellen Korruption.
Weitere reelle Konnotationen verbergen sich hinter Bolats Namen, der mit dem von Nasarbajews verstorbenem Bruder übereinstimmt, und selbst der Hochzeit des neuen Paares, wo der angemietete Festsaal Khan Shatyr (Name eines Einkaufszentrums in Astana) und die Moschee Nurly (kas. für Licht) heißen. Die ironische Krönung des Ganzen stellt jedoch der Name des Dorfes selbst dar: Bolashak – Zukunft.
Kritischer Blick auf Hochzeitstraditionen
Dästur ist das kasachische Wort für „Tradition“ und stellt somit schon von Grund auf eine interessante Frage an die kasachische Gesellschaft. Inwieweit lassen sich Tradition und Zukunft vereinbaren? Oder ist es doch nötig, bestimmte Traditionen im Namen des Fortschritts hinter sich zu lassen? Der Film gibt eine eindeutige Antwort: Ja.
Verortet im ländlichen Raum anstatt vor städtischer Kulisse, werden vom Film klar rudimentäre Geschlechterverhältnisse und traditionelle Werte der kasachischen Kultur kritisiert, die mit der allmählichen Adoption von verwestlichten Wertesystemen im urbanen Raum aufeinanderprallt. Vor allem Hochzeitstraditionen haben einen hohen Stellenwert. Im Film ist davon jedoch nicht viel zu sehen. Und das, was dem Zuschauer präsentiert wird, fühlt sich eher an wie eine Tortur.
Die offensichtlich unbegeisterte, gequälte Diana und ihre Familie stehen im Kontrast zum aufgesetzten Frohsinn bei den Festlichkeiten, mitsamt vorgetragenen Reden und gesungenen Liedern, begleitet von den heiteren Klängen der Dombyra, die im Laufe des Filmes immer düsterer und unheilverkündender werden. Die Abwesenheit von Qūdalyq (das Treffen der Eltern) und Qyz Ūzatu Toi (die Verabschiedung der Braut) zeugen weiter davon, dass diese Ehe alles ist – nur keine glückliche Zusammenkunft.
Entpersonalisiert und abgewertet
Ein weiteres wichtiges Konzept, das unausgesprochen im Mittelpunkt der Handlung steht, ist Uyat. Uyat bedeutet „Scham“ und steht für eine Form der Wertung von Mitgliedern der Gesellschaft, die vor allem Frauen trifft und sie dazu zwingt, sich sozialen Erwartungen zu fügen.
Mit dem Phänomen haben sich vor zwei Jahren die Wissenschaftler Helene Thibault und Jean-François Caron in ihrem Werk „Uyat and the Culture of Shame in Central Asia” befasst. Darin werfen sie einen kritischen Blick auf die patriarchalen und hierarchischen Geschlechternormen, die dahinter stecken und sich negativ auf Frauen und queere Menschen auswirken – aber auch darauf, wie Angehörige der jungen Generation sich gegen diese verletzenden gesellschaftlichen Dynamiken äußern.
Nicht zuletzt dadurch hat eine breitere Debatte zum Begriff Uyat und seinen Folgen für die Betroffenen stattgefunden. Dästur ergänzt diese und gibt einem generationenübergreifenden Gefühl Ausdruck, wo niemand wirklich glücklich ist, das Gesicht der Familien jedoch gewahrt werden muss.
Die zugrundeliegende Aussage des Filmes, wie sie überwiegend auch in Werbematerial formuliert wird, erscheint am Ende noch ein letztes Mal in klaren Buchstaben auf dem Bildschirm. Dort heißt es, dass ein Teil der Einnahmen an Frauenrechtsorganisationen und Frauenhäuser gespendet wird.
Filmkritiker Alexander Medwedew schreibt in seinem Artikel für vlast.kz jedoch, die „Promo für ‚Dästur‘ sage viel mehr über das Problem der häuslichen Gewalt aus als der Film selbst“. Als Antwort an einige Kritiker, die auf Basis der Promotour des Films eine Dämonisierung Dianas voraussagten, stellt der Autor nur ernüchternd fest, dass sie stattdessen „völlig entpersonalisiert und ihr Leiden abgewertet“ werde.
Meilenstein der lokalen Filmindustrie
Tatsächlich muss man zugeben, dass „Dästur“ – trotz seiner hohen Ambitionen – an manchen Stellen an seine Grenzen gestoßen ist. Vor allem, wenn die Handlung eines Films so einfach gestrickt und mit solch großen Wörtern geschmückt ist, muss anderweitig Raffinesse beigefügt werden. „Dästur“ jedoch fehlt die nötige Spannung, um dem simplen Konzept Flügel zu verleihen, und bleibt damit ein ziemlich bodenständiger Statement-Film.
Vor allem gegen Ende hin zieht sich die Handlung und kulminiert in einer rund siebenminütigen Exorzismus-Szene, die den sonst qualitativ hochwertigen Film etwas ins Unseriöse zieht. Wirklicher Horror kommt hier zu kurz. Hinzu kommt, dass die Rolle der Eltern Dianas in der zweiten Hälfte des Films fast vollkommen in den Hintergrund gerät, wo sie zuvor eine treibende Kraft und ein dringend nötiges Pendant zum Antagonisten und seiner Familie darstellten.
Nichtsdestotrotz muss man Kuanisch Beisekow und der hochkarätigen Besetzung alle Ehre erweisen. Insgesamt ist Dästur hervorragend produziert. Mit stimmiger Kameraführung, ausdrucksstarkem und atmosphärischem Bild sowie hervorragenden Leistungen bekannter Schauspieler ist Dästur immer noch ein gut gelungener kasachischer Genrefilm und etabliert sich als ein neuer Meilenstein in der lokalen Filmindustrie. Somit hat sich nun endlich auch Kasachstan dem heranwachsenden Trend der muslimischen Horrorfilme, wie es sie zuvor schon in Malaysia und Indonesien gab, angeschlossen.