Kurz bevor die Pandemie den Passagierverkehr weltweit in den Pausenmodus versetzte, unternahm ein Schweizer Fotograf eine herausfordernde Reise: Mario Heller reiste ganze 7.500 Kilometer mit der Bahn durch Kasachstan und verbrachte insgesamt 16 Tage in Zügen. Ein Jahr später sind seine Fotos im englischen Online-Magazin The Calvert Journal unter dem Titel „Liebe, Verlust und Feier: Mach‘ eine seelenbelebende Zugfahrt durch Kasachstan“ erschienen und haben die Aufmerksamkeit kasachischer Medien auf sich gezogen.

Auf seinen Wegen traf Mario energiegeladene Senioren und zielstrebige Studierende, unterhielt sich mit dem Zugbegleiter, und stieß mit den Passagieren im Bordrestaurant an. Wir haben mit Mario über die Reise, seine Eindrücke und darüber gesprochen, warum es sich lohnt, mit der Bahn das eigene Land zu entdecken.

Herr Heller, Sie waren früher Konditor. Wie kamen Fotografie und Journalismus in Ihr Leben?

Ich hatte schon als Kind Freude daran, Geschichten zu erzählen. In der Schule habe ich viele Aufsätze geschrieben. Als die Ausbildung zum Bäcker begann, habe ich in der Freizeit fotografiert und damit angefangen, Geschichten mit Fotos zu machen. So ging es los, und 2013 habe ich meine Ausbildung an der Schweizer Journalistenschule angefangen.

Sie waren in Kasachstan im Herbst 2019, haben aber Ihre Fotos erst Ende März 2021 veröffentlicht. Warum gab es eine so lange Stille?

Das hat leider mit der Corona-Pandemie zu tun. Ich habe lange gesucht nach einer passenden Veröffentlichungsmöglichkeit, und habe einige Absagen bekommen. Die Zeitungen konnten nichts über Reisen schreiben, weil Reisen nicht möglich waren. Aber ich denke, diese Pause hat sich gelohnt.

Woher kommt das Interesse an Kasachstan?

Es ist ganz lustig, dass viele Leute in Kasachstan das nicht verstehen. Auf Instagram gibt es immer wieder Kommentare wie „Warum tust du dir das an?“ oder „Was ist los mit dir?“ Ich glaube, viele vergleichen das Land, in dem sie selbst leben und aufwachsen, mit anderen Ländern. Dann merken sie, dass es nicht so reich oder in der Entwicklung nicht so fortgeschritten ist wie zum Beispiel Deutschland, und verstehen nicht, warum ich hierhergekommen bin. Das kann ich nachvollziehen. Wenn man wie ich in einem Land wie der Schweiz aufwächst, wo alles perfekt, schön, sauber ist, wo Züge immer pünktlich sind, kann es am Ende langweilig werden. Man sehnt sich nach dem Unregelmäßigen, nach dem Unperfekten.

Warum genau Kasachstan – das war eine impulsive Entscheidung. Ich habe auf der Karte geschaut, welches Land in Zentralasien für eine neue Geschichte interessant sein könnte. Und Kasachstan hat mich durch seine schiere Größe beeindruckt. Ich war einfach sehr neugierig.

Wie lange brauchten Sie, um die Reise zu planen?

Die Planung der Reise dauerte etwa zwei Monate. Ich habe Leute über soziale Medien gefunden. Eine Frau hat mir sehr mit der Organisation des Projektes geholfen und mir jemanden gesucht, der mich begleiten könnte.

Viele bevorzugen es, mit dem Flugzeug oder mit dem eigenen Auto zu reisen, denn es ist viel komfortabler als mit der Eisenbahn. Warum haben Sie sich für den Zug entschieden?
Die Idee mit dem Zug kam auch ziemlich schnell. Ich habe herausgefunden, dass die Strecken sehr lang sind und dass Kazakhstan Temir Zholy, also die Kasachische Eisenbahn, der größte Arbeitgeber des Landes ist. Ich hatte das Gefühl, dass viele kleine Orte in Kasachstan abgelegen und mit dem Auto oder mit dem Flugzeug schwer erreichbar sind. Ich glaube, viele Leute fahren deswegen gerne mit dem Zug, aber vor allem auch, weil sie gerne miteinander kommunizieren.

Dieses Reisen mit dem Zug hat eine starke soziale Komponente. Die Leute tauschen sich mit ihren Landesgenossen aus, erzählen von ihren Problemen, schließen Freundschaften. Viele, vor allem die älteren Menschen, reisen nicht mit dem Zug, um möglichst schnell am Ziel zu sein, sondern um möglichst langsam an das Ziel zu kommen, um die Reise genießen zu können.

Sie schreiben das Folgende über Ihre erste Nacht im Zug: „Ich befinde mich in einem Dämmerzustand zwischen seichtem Schlaf und nervösen Blicken auf mein Mobiltelefon: Noch immer kein Empfang. Ich bin gefangen im Hier und Jetzt“. Kurz nach drei Uhr morgens konnten Sie nicht einschlafen. Aber haben sie sich in den drei Wochen daran gewöhnt?

Die erste Nacht war wirklich schlimm. Es war sehr warm, obwohl es schon Herbst war. Die ersten paar Tage habe ich mit Platzkarte gebucht, und es war da sehr laut: Die Leute schleichen, Kinder spielen im Flur, jemand hört Radio. Es war ein Gewusel. Ich musste mich erst mal daran gewöhnen. Zuletzt hatte ich kein Problem mehr mit Einschlafen im Zug. Als ich nach drei Wochen Reisen im Hotel war, schaukelte ich noch hin und her.

In welchen Städten haben Sie Halt gemacht und wie lange? Welche Stadt oder welche Strecke hat Sie besonders beeindruckt?

Wir haben meistens 24 Stunden Pausen gemacht. Meist waren wir von der Reise erschöpft und hingen in unseren Zimmern ab. Ich habe leider nicht so viel von Kasachstan gesehen, dafür muss ich nochmal hingehen. Von den Orten faszinierten mich vor allem das Kaspische Meer und Nur-Sultan mit seiner Architektur. Das Wichtigste ist die Vielfalt, die ich gesehen habe. Man reist durch verschiedene klimatische Zonen: Mal ist es fast unter 0 Grad, dann ist es fast 30 Grad und Kamele laufen an einem vorbei. Man kann unterwegs alles von Schnee über Meer, Wüste und Berge sehen.

Ich fand es lustig, dass mein Begleiter krasse Vorurteile gegenüber den Leuten im Westen, in Atyrau und Aktau, hatte. Er sagte, da seien die Leute zu streng und nicht offen, da müssten wir aufpassen – und es hat sich bewahrheitet. Die Leute da waren total anders, hatten einen ganz anderen Charakter als die Leute im Süden. Kasachstan ist ein sehr vielfältiges Land mit vielen Subkulturen; mit völlig anderen Bräuchen und Menschen, je nachdem, wo man ist.

Ein gewisser Teil der in Almaty Geborenen war nie außerhalb ihrer Stadt und glaubt irrtümlich, dass Almaty und Kasachstan das Gleiche seien. Dank Ihrer Fotos kann man nun sehen, dass es nicht stimmt. Was würden Sie solchen Kasachstanern empfehlen? Was würden Sie ausländischen Touristen empfehlen?

Ich finde es lustig, dass viele Kasachen ihr eigenes Land nicht kennen. Wahrscheinlich ist das einfach so, wenn man in einem so großen Land lebt. Ich würde den Einheimischen empfehlen, sich ein paar Wochen Zeit zu nehmen und durch das eigene Land zu reisen. Für Leute aus dem Ausland ist es ein Geheimtipp. Es ist ein sicheres Land, das durchaus mit den Standards von europäischen Ländern mithalten kann. Die Leute sagen immer: „Ach, in Deutschland muss es viel besser sein.“ Aber in Deutschland ist es gar nicht besser.

Der letzte Zug, den ich genommen habe, war der Talgo-Schnellzug von Nur-Sultan bis Almaty, und der war moderner und neuer als manche Züge in Deutschland. Diese Talgo-Schnellzüge fühlen sich wie Raumschiffe auf Schienen an. Aber auch die alten Züge aus der Sowjetzeit faszinieren mich. Sie versetzen einen in Nostalgie. Ich finde es toller, in einem Museum auf Schienen zu sein, als in einem Raumschiff. Die Qualität und das Reiseerlebnis hängen von der Pünktlichkeit, der Sauberkeit, der Gemütlichkeit, dem Personal ab. In diesem Sinne finde ich, dass Kasachstan sich hinter Deutschland nicht verstecken muss.

Zum Schluss: Was bedeutet das Reisen für Sie?

Für mich ist das Reisen natürlich ein Abenteuer. Mir geht es auf Reisen darum, Geschichten zu erzählen, Orte zu entdecken, und das den Leuten, die nicht reisen können, näher zu bringen. Ich möchte, dass die Menschen sich an den Bildern und Geschichten erfreuen, deswegen reise ich. Ich habe vor, dieses Projekt mit den Zügen auf ganz viele Länder mit langen Zugstrecken auszudehnen und sie zu dokumentieren.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg bei den zukünftigen Projekten!

Die Fragen stellte Aizere Malaisarova.

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