Die Organisation des ersten nationalen Pavillons Kasachstans auf der 59. Biennale in Venedig hat unter den Ereignissen in der Ukraine gelitten. So kamen unter anderem die Materialien nicht rechtzeitig an. Das ORTA Collective hielt dies jedoch nicht davon ab, temporäre Strukturen zu bauen. Der komplett montierte Pavillon wurde am 17. Mai wiedereröffnet. Alexandra Morosowa, Rustem Begenow, Darya Jumelya, Alexandr Bakanow und Sabina Kuangaliyewa vom ORTA Collective erzählen über die zurückliegenden Herausforderungen und die heutige Atmosphäre im Pavillon.
„LAI-PI-CHU-PLEE-LAPA. Centre for the New Genius“ – unter diesem Namen präsentieren die Künstler des ORTA Collective in diesem Jahr den ersten nationalen kasachischen Pavillon auf einer Biennale. Dabei hatte das Kollektiv direkt am Anfang mit einigen Herausforderungen zu kämpfen, da die benötigten Materialien verspätet in Venedig eintrafen. Der Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine am 24. Februar führte zu einer radikalen Änderung in der Route des Materialtransports. Unter diesen Umständen beschlossen die kasachischen Künstler schon vor der Eröffnung am 21. April, einen vorübergehenden Temporary Centre for the New Genius mit Materialien von lokalen Baugeschäften zu gestalten. Der Temporary Centre for the New Genius lief bis zum 27. April, als der Pavillon vorübergehend geschlossen wurde.
The New Genius ist ein System, das ORTA aus Ideen, Kunst und Leben von Sergej Kalmykow entwickelt haben. Kalmykow selbst hat aber weder eine Philosophie explizit benannt, noch seine Prinzipien in einem bestimmten System geordnet. „In unserer Theorie von ‚The New Genius‘ sind Genionen Teilchen des Genies, die in jedem Menschen vorhanden sind“, sagen die Künstler. Das Projekt „Centre for the New Genius dient dazu, diese Genionen der Besucher besser zu aktivieren. Für die Macher von ORTA Collective ist die Biennale eine Plattform, um ein befreiendes und zugängliches System mit der Welt zu teilen, das es jedem Menschen ermöglicht, sein kreatives Potenzial zur Entfaltung zu bringen: „Jeder ist ein Schöpfer. Jeder ist ein Genie – denn Genius ist laut Kalmykow und dem New Genius eine Praxis, und keine außergewöhnliche natürliche Gabe, die nur sehr wenigen gegeben wird“.
Die Aktivierung der Genionen der Besucher des Pavillons spielt eine wichtige Rolle bei der Öffnung eines Portals zur „Vierten Dimension“ – einem Riss in die Realität, in die Absolutheit der Natur des Genies – die im November in Anwesenheit von ORTA zum Abschluss der Biennale 2022 stattfinden wird.
Entscheidende Experimente im temporären Bau
Der gesamte Pavillon war anfangs von innen mit einer Art weicher Pappe verkleidet. Der Karton vermittelte das Gefühl eines sehr sicheren und warmen Raums, der sich von innen wie die provisorische Hütte eines Kindes anfühlte. Die Künstler führten hier ab dem 21. April ihre „Spectacular Experiments“ durch – spezielle performative Mitmach-Events, die es ermöglichten, unter den gegebenen Umständen einige kritische Daten über die Emanationsniveaus von Genionen zu sammeln. Diese Experimente bildeten einen entscheidenden Teil des zukünftigen Centre for the New Genius.
Während der Spectacular Experiments las Alexandra Morosowa einen visionären Text von Sergej Kalmykow unter dem Titel „Im Laufe eines Tages“. Das ORTA-Collective-Mitglied Sabina Kuangaliyewa führte mit Hilfe von Artyom Kim, Yelisaweta Barychewa und Alisa Igilmanowa Experimente mit den Lichtmustern von Muranoglas durch; und die ORTA-Mitglieder Darya Jumelya und Rustem Begenow aktivierten Genionen mit einem elektrischen Licht- und Sounddesign. Zu den Hauptbühnen, auf denen die Experimente dargeboten wurden, gehörte die „Anbetungsbühne“: Hier sammelten die Künstler die Namen aller Besucher und sangen dann zusammen ein Lied, in dem sie alle anbeteten. „Jeder kann genial sein und ist es definitiv wert, angebetet zu werden“, kommentiert ORTA Collective die Aktion.
Hochspannung am Grenzübergang
Zehn Tonnen schwer waren die Materialien und Geräte, die die Künstler für den Transport mit zwei Lastwagen vorbereitet hatten, um ihr Centre for the New Genius auf der Biennale aufzubauen. Ursprünglich sollten die Lkw durch Russland, dann nach Litauen und anschließend bis nach Italien fahren. Das war die übliche Route für Landfracht von Kasachstan nach Europa. Als die Kampfhandlungen in der Ukraine begannen, musste diese Route geändert werden. Der Grund: Unklarheit an der russisch-litauischen Grenze. Die neue Route führte über das Kaspische Meer, die russischen Republiken Dagestan und Tschetschenien, Georgien, die Türkei und Italien. Am Grenzübergang zwischen Russland und Georgien – Verkhnii Lars – saßen die Lastwagen schließlich wegen schlechten Wetters zwei Wochen lang fest.
Das Centre for the New Genius heute
Die Öffentlichkeit sieht heute das aus fünf Zonen bestehende Centre for the New Genius in Originalgröße. „Es ist eine funktionierende Maschine, um das eigene innere Genie zu aktivieren und eine nachhaltige Öffnung des Portals zur ‚Vierten Dimension‘ zu schaffen“, kommentiert das Kollektiv von ORTA. „Je mehr Zeit die Besucher im Pavillon verbringen, desto aktiver wird ihr Genie“.
Eine Zone bildet der Stanniolraum mit der „Pyramidal Photoiconostasis“ – einem speziellen achtstufigen dynamischen Strahler, der aus 108 LCD-Displays in Form einer dreiseitigen umgekehrten Pyramide besteht.
Eine weitere Zone ist die „New Genius Jurte“ – ein alternatives Design der traditionellen nomadischen Behausung. Die New Genius Jurte hat eine elliptische Form mit zwei Toren und zwei Shanyraks –Schlüsselelementen in Form eines gekreuzten Kreises auf der Oberseite. In der Jurte gibt es eine Reihe von Fahnen mit Slogans aus lebensbejahenden Texten von Sergej Kalmykow, die von Alexandra Morosowa auf die alten sowjetischen Stoffe gestickt wurden. Dabei wurde das traditionelle, aber leider verschwindende kasachische Volkshandwerk „biz keste“ verwendet. Außerdem befindet sich in der Jurte unter dem Deckmantel eines „Katalogs“ zum Pavillon das allererste Buch über The New Genius. Dieses von Sabina Kuangaliyewa erschaffene Werk ist durch seine Texte, Fotografien, Zeichnungen und Gestaltung eine Manifestation und ein Symbol von New Genius.
Die nächste Zone – der „Generator of Genius“ – ist ein Raum mit einer Tunnelmaschine, die einer kontrollierten nachhaltigen Öffnung des Portals zur „Vierten Dimension“ dienen soll. Hier liest Alexandra Morosowa den visionären Text von Sergej Kalmykow auf Russisch und singt das Lied „Beauty“ der kasachischen Musikband JCS auf Kasachisch. Begleitet wird die Lesung mit Musik von Tommy Simpson alias Macro/micro.
Im Innenhof befindet sich schließlich eine Zone, die aus der „Großen Pyramide“ von Alexander Bakanow besteht. Morosowa stickt hier die Worte von Sergej Kalmykow auf die sowjetischen Stoffe und absorbiert zugleich die Emanationen der Schönheit Venedigs.
„Wir kommen alle aus Kalmykow“
ORTA Collective arbeiten seit 2016 mit dem Erbe von Sergej Kalmykow und haben mehrere Projekte durchgeführt. „2019 begannen wir mit der Arbeit am World Project of the New Genius“, berichten die Künstler. Ursprünglich sollte die erste Phase des Weltprojekts auf der Kochi-Muziris-Biennale in Indien im November 2020 stattfinden, aber die Corona-Pandemie durchkreuzte die Pläne. Dann, im Juni 2021, wurde ORTA zum NONAME-Festival im Meyerhold Center in Moskau eingeladen, wo das Kollektiv im Auftrag der damaligen Direktorin des Centers, Yelena Kowalskaya, die sogenannte Nullphase des World Project of the New Genius schufen. Als ihnen im Herbst 2021 die Kommissarin des ersten kasachischen Nationalpavillons auf der Biennale in Venedig, Meruyert Kaliyewa, ein Projekt für den Pavillon anbot, wussten sie sofort, dass dies die erste Etappe von „The New Genius“ sein würde.
Über Kalmykow sagen die Künstler, dass dieser nie irgendein Star gewesen sei und nie eine persönliche Ausstellung gehabt habe. „Aber er war bis zu den letzten Tagen glücklich am Schaffen, unabhängig von der Schwere der Welt um ihn herum. Und dieser ausgeschlossene und marginalisierte, aber freie und unabhängige Künstler wurde für viele Künstler in Almaty und Kasachstan zu einer sehr wichtigen Figur“. Alexander Brener, der ebenfalls aus Almaty stammt, schrieb sogar: „Wir kommen alle aus Kalmykow“. Kalmykow selbst schrieb in seinen Tagebüchern: „Du kennst mich nicht, aber ich werde zusammen mit Picasso und da Vinci ewig in der Geschichte bleiben.“ Das ORTA-Kollektiv ist deshalb stolz darauf, ihm nun, 55 Jahre nach seinem Tod, den ersten Pavillon Kasachstans auf der Biennale zu widmen.
In den fünf Jahren, in denen ORTA Collective an Kalmykow gearbeitet haben, haben sie mit vielen Kasachen aus allen Gesellschaftsschichten zusammengewirkt. Hierzu gehören Künstler und Musiker, aber auch Menschen, die vorher überhaupt nichts mit Kunst zu tun hatten – Programmierer, Ingenieure, Mechaniker, Fahrer, Schweißer. „Das ist die Essenz unserer Arbeit – für alle, auch für uns, über ihre gewohnten Kompetenzen hinauszugehen“, heißt es von Seiten des Kollektivs. „Das ist auch das Prinzip des New Genius. All diese Menschen, einschließlich uns selbst, spiegeln also das aktuelle Kasachstan wider“. Das Ergebnis dieses Prozesses ist der Pavillon in Venedig.