Ira Peter, Stadtschreiberin von Odessa, im Interview

Von Mai bis Oktober 2021 ist Ira Peter als Stadtschreiberin* von Odessa im Schwarzmeergebiet unterwegs und recherchiert zu deutscher und jüdischer Geschichte in der Region. Ihre Eindrücke teilt sie auf ihrem Instagram-Account unter @ira_peter und auf ihrem Blog unter www.stadtschreiberin-odessa.de. In einem Interview mit der DAZ berichtete Ira Peter von ihrem Stadtschreiber-Stipendium und ihrem Aufenthalt in Odessa:

Ira, warum hast du dich für dieses Stipendium beworben? Was hat dich an Odessa so gereizt?

Die Ukraine ist für mich ein besonderes Land, unter anderem auch, weil meine Großeltern bis zu ihrer Deportation nach Kasachstan im Jahr 1936 in einer deutschen Kolonie in Wolhynien gelebt haben. Die Geschichte und die Kultur des Landes haben mich schon immer sehr interessiert. Odessa hat mich gereizt, da es eine multinationale Stadt ist und immer war. Sie hat einen besonderen Flair und eine besondere Geschichte, die darauf basiert, dass hier einst viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen zusammengelebt und das Stadtbild geprägt haben. Ich sah das Stipendium als meine Chance, die Ukraine besser kennenzulernen und mehr über die Geschichte des Landes, aber auch der deutschen Minderheiten und der jüdischen Bevölkerung zu erfahren.

Was war das erste prägende Erlebnis in Odessa und was macht diese Stadt für dich so besonders?

Mein erstes prägendes Erlebnis war die Begegnung mit meiner Vermieterin. Sie war der erste Mensch, den ich in Odessa kennengelernt habe. Bei meiner Ankunft in der Wohnung wartete sie mit einem großen Blumenstrauß auf mich. Sie hatte ein paar Sachen für mich eingekauft und die Tiefkühltruhe mit Pelmeni gefüllt.

Das Besondere an Odessa sind die Menschen – mit ihrem Humor, ihrer Offenheit und ihrer Leichtigkeit: Das habe ich so in keinem anderen Land erlebt. Du wirst überall herzlich empfangen und eingeladen. Die Menschen betrachten dich aber nicht als Gast, sondern als eine Schwester oder Cousine. Egal, wo du hinkommst, du gehörst sofort zur Familie.
Ob im Taxi oder im Rahmen eines Interviews für meinen Blog: Die Menschen gehen immer gern und offen ins Gespräch. Sogar, wenn sie über die schweren Kapitel der Vergangenheit sprechen, so blicken sie am Ende doch immer positiv und zuversichtlich in die Zukunft.

Welche Themen würdest du gern im Rahmen deines Aufenthalts noch aufgreifen?

Die Themen sind vielfältig, sowohl geschichtlich als auch aus dem aktuellen Geschehen. Ich möchte mich mit der Geschichte der Schwarzmeer- und der Bessarabiendeutschen beschäftigen, deutsche Kolonien besuchen, aber auch einzelne Schicksale vorstellen. Kürzlich habe ich die Bürgermeisterin eines Dorfes getroffen. Das Dorf war früher eine deutsche Kolonie, trägt heute jedoch einen ukrainischen Namen. Die Bürgermeisterin ist selbst Ukrainerin und hat gar keinen deutschen Hintergrund, setzt sich aber dafür ein, dass das Dorf seinen deutschen Namen zurückbekommt. Bei solchen Geschichten finde ich es immer spannend, zu erfahren, was die Menschen bewegt und welche Hintergründe dahinter stecken.

Des Weiteren werde ich mich der jüdischen Geschichte im Schwarzmeergebiet widmen. Ich möchte das Holocaust-Museum besuchen und den Kontakt zur jüdischen Community aufbauen. Die Geschichte der jüdischen Bevölkerung ist für mich ebenfalls spannend und wichtig.

Letztens warst du auch in Wolhynien unterwegs: Was verbindet dich mit dieser Region?

Meine Großeltern haben bis 1936 in Wolhynien gelebt. Ich habe bereits alle ehemaligen Lebensorte meiner Vorfahren dort besucht. Ich finde es interessant zu sehen, in welcher Landschaft und in welcher Umgebung meine Großeltern gelebt hatten. Und um besser verstehen zu können, wer ich bin und was ich in mir trage. Ich werde immer wieder nach Wolhynien zurückreisen. Momentan setze ich mich dafür ein, dass in dem Dorf, aus dem mein Großvater kommt, ein Erinnerungsort entsteht: In Gedenken an 85 Jahre Deportation und an die deutschen, polnischen und ukrainischen Opfer der politischen Repressionen.

Jahrzehntelang ist meine Familie davon ausgegangen, dass es das Geburtsdorf meines Großvaters gar nicht mehr gibt. Als wir dann vor Ort waren, haben wir festgestellt, dass dieses Dorf nicht nur in der Erinnerung existiert, sondern dass dort tatsächlich noch Häuser stehen und Menschen leben. Dass den Bewohnern im Nachbardorf mein Nachname ein Begriff ist und sie sogar noch wissen, wo das Haus meiner Vorfahren stand – das war ein unbeschreibliches Gefühl!

Die Erzählungen meiner Großeltern über Wolhynien klangen für mich immer wie die Geschichten aus einem Märchenbuch. Als ich dort gewesen bin und alles mit eigenen Augen gesehen habe, wurde die Geschichte greifbar und lebendig. Daraus ziehe ich ganz viel Kraft für mein eigenes Leben. Ich fühle mich mit der Geschichte meiner Familie und auch mit Wolhynien sehr verbunden.

Ich finde alle Orte in der Ukraine interessant, wo noch Spuren deutscher Vergangenheit zu finden sind. Mancherorts sind diese Spuren sichtbar, aber es gibt auch Orte, wo nichts mehr zu sehen ist. Doch auch diese Leerstellen erzeugen eine Fülle an Emotionen in mir. Ich glaube, darum geht es bei der Aufarbeitung unserer Vergangenheit: Das Nicht-Sichtbare der Geschichte sichtbar zu machen und die Leere zu füllen.

Welche Rolle spielt die Erinnerungsarbeit heutzutage?

Erinnerungsarbeit ist für jeden Menschen wichtig, unabhängig von seiner Herkunft. In jeder Familie gibt es spannende Geschichten aus der Vergangenheit. Wenn man seine eigene Familiengeschichte kennt und weiß, was die Vorfahren erlebt haben, kann man daraus für das eigene Leben viel Kraft und Mut schöpfen.

Wenn ich vor Herausforderungen in meinem Leben stehe, denke ich oft an den Lebensweg meiner Vorfahren. Daran, was sie erlebt und wie sie all die Hindernisse überwunden haben. Trotz der schrecklichen Verluste und des schweren Schicksals sind sie nicht verzweifelt. Sie haben weder angefangen zu hassen, noch haben sie aufgegeben.

Auf der gesellschaftlichen Ebene finde ich die Erinnerungsarbeit sehr wichtig, damit sich das Grauen aus der Vergangenheit nicht wiederholt. Stellt euch mal vor, wir würden nicht über den Holocaust oder über die Deportationen sprechen. Wir hätten keine Ahnung, mit wie viel menschlichem Leid das verbunden ist, welche Folgen Hass oder Diktaturen nach sich ziehen können. Dann besteht die Gefahr, dass solche schrecklichen Ereignisse sich wiederholen.

Was möchtest du der Welt noch mitteilen?

Die Ukraine ist ein hochinteressantes und ein sehr vielfältiges Land – landschaftlich und kulturell. Es gibt sehr viele Berührungspunkte in der Geschichte unserer Länder. Durch meinen Aufenthalt in Odessa hoffe ich, mehr Menschen in Deutschland für die Ukraine begeistern zu können. Gleichzeitig möchte ich auch in der Ukraine das Interesse an Deutschland wecken. Ich hoffe, dass die Verbindung und die Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern stärker wird und wir in Zukunft mehr gemeinsame Projekte, zum Beispiel auf dem Feld der Erinnerungsarbeit, umsetzen werden.

*Das Stadtschreiber-Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa soll das gemeinsame kulturelle Erbe der Deutschen und ihrer Nachbarn in jenen Regionen Mittel- und Osteuropas, in denen Deutsche gelebt haben und heute noch leben, in der breiten Öffentlichkeit bekannt machen. Als Wanderstipendium konzipiert, wird es an herausragenden Orten des östlichen Europas angesiedelt und soll dort für gegenseitiges Verständnis werben sowie den interkulturellen Dialog fördern. Quelle: www.kulturforum.info

Katharina Martin-Virolainen

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