Im vierten Teil der Erzählung über die deutschen Frauen in der Trudarmee beschrieb Valentine Bolz, wie willkürlich und gnadenlos ihre Tante für ein vermeintliches Vergehen bestraft wurde. Nun erfahren wir, was der Einrichter der Werkbänke Hanulin für sie erreichen konnte. Fortsetzung aus der vorherigen Ausgabe.

Als er zurückkam, sagte er zu Mathilde: „Weine nicht, Fischer, du musst nicht mehr in den Karzer.“ So war es auch. Dora erzählte am Abend Mathilde, dass Hanulin sich die Ruf zur Seite genommen hatte: „Er muss ihr tüchtig die Leviten gelesen haben! Ich konnte zwar nicht hören, was er sagte, aber die Ruf war rot wie ein Krebs.“ Dora lachte triumphierend. Mathilde wurde es warm ums Herz – ein wildfremder Mensch hatte sich für sie eingesetzt. Einfach so! Weil er es nicht für richtig hielt.

Mathilde verspürte große Dankbarkeit. Sie hatten schon alle den Glauben daran verloren, dass ihnen gegenüber jemand noch so menschlich handeln konnte. Keine von den Frauen konnte die Ruf leiden. Die Barackenältesten waren die Einzigen, die man aus ihren Reihen wählte. In ihrer Baracke war es Marie Ruf. Um vor den „Natschalniki“ zu liebedienern, demütigte sie die Frauen, schrie sie an, bestrafte sie ohne jeden Grund. Nach diesem Vorfall hat sie sich jedoch zusammengerissen und Freundlichkeit und Verständnis vorgespielt.

Das furchtbare Geschehen an jenem trüben Morgen stand Mathilde ihr ganzes Leben lang vor den Augen. Sie hatten Tagschicht. Dora und sie hatten gute Laune, denn ein Tag davor kam die Post – Mathilde hat einen Brief von zu Hause erhalten und Dora sogar ein Paket. In dem Paket war auch ein geblümtes Kattuntuch drin, das Dora sogleich umband. Sie bewunderte immer Mathildes lange, dicke Zöpfe, die sie wie einen Kranz um den Kopf legte. Dora machte es ihr nach. „Ich dreh aus meinen Schwänzchen auch ein Kränzchen“, lachte sie. Gut gelaunt fingen sie die Arbeit an. Dora arbeitete ein paar Maschinen
weiter.

Ein einschneidendes Erlebnis für alle Frauen

Es ging schon auf Mittag zu, als ein entsetzlicher Schrei sogar den Lärm der Maschinen übertönte. Mathilde schaute von ihrer Arbeit hoch, sah den Einrichter Hanulin zum Schalter rennen – die Maschinen verstummten. Um Doras Werkbank versammelten sich nun die Frauen, auch Mathilde eilte hin. Alles war voll Blut, Dora lag blutüberströmt auf dem Boden. Mathilde wurde es schwarz vor den Augen. Zwei Frauen bewahrten sie vor dem Fall, setzten sie auf den Fuß einer Werkbank, wedelten ihr Luft zu. Bald kam ein Arzt mit zwei Sanitätern. Dora wurde auf eine Bahre gelegt und weggebracht. Es herrschte eine große Aufregung – Aufseher und Vorarbeiter rannten hin und her. Lisa, die neben Dora arbeitete, erzählte, am ganzen Körper zitternd, dass Doras Zöpfe unterm Tuch rausrutschten und von der Drehbank erfasst wurden und ihr ganzes Haar wurde samt Haut vom Kopf gerissen. „Das Blut spritzte bis zu mir rüber“, erzählte sie weinend.

Endlich ließ man die Frauen antreten, der Werkleiter hielt eine kurze Rede – es tue ihm leid, was passiert sei. Aber die Frauen würden selbst sehen, wozu es kommen könne. Deswegen befehle er, die Zöpfe abzuschneiden, das kurze Haar fest mit einem Tuch abzubinden. Der Unfall hätte die Produktion, die so wichtig für die Front sei, für mehrere Stunden gestoppt, und das sei unzulässig. Mathilde hat diese Schicht nur mit Mühe überstanden. Den anderen ging es auch nicht anders.

Hoffnung auf das Überleben der Leidensgefährtin

In der Baracke wartete schon die Ruf mit Scheren. Die Frauen schnitten einander die Zöpfe ab. Die meisten warfen das Haar gleich in den brennenden Ofen. Mathilde kämmte ihr Haar erst noch einmal gründlich, flocht es dann zu zwei festen Zöpfen. Die Zöpfe wollte sie dann später nach Hause schicken. Als Emily die Schere ansetzte, zog sich ihr Herz zusammen – als 15-16-jährige wollte sie sich so gern einen Pony schneiden, aber die Mutter erlaubte es ihr nicht. Und jetzt… Erst schien es, als ob die Schere gegen ihr dickes Haar machtlos sei. Emily musste sich tüchtig ins Zeug legen, bis sie Mathildes Zöpfe abgeschnitten hatte. Das kurze Haar fiel ihr ins Gesicht. Die Frauen drängelten sich um Charlottes Pritsche – sie hatte einen kleinen Handspiegel. Man hörte überraschte oder enttäuschte Ausrufe. Wenn nicht der heutige schlimme Unfall mit Dora gewesen wäre, hätte das Haareschneiden bestimmt zu einer ausgelassenen Heiterkeit geführt.

Als Mathilde dran war, schaute ihr ein blasses schmales Gesicht in einer Haarmähne entgegen. Sie hatte tüchtig abgenommen, das merkte sie auch an ihrem Rock. Das kurze Haar zu bändigen, war keine leichte Aufgabe, es wollte einfach nicht unter dem Tuch bleiben. Auf der Arbeit kam Hanulin zweimal kopfschüttelnd an Mathildes Maschine, schob sie zur Seite, auf ihr Tuch nickend, und machte für sie die Arbeit, bis sie das Haar unter das Tuch gestopft und dieses wieder fester um den Kopf gebunden hatte.

Am Ende der Schicht sagte er ihr: „Сходи в парикмахерскую. А то тебя, не дай бог, не только оскальпирует, а сразу голову оторвёт. (Geh zum Frisör. Sonst werdest du, bewahre Gott, nicht nur skalpiert, dir reißt es gleich den Kopf ab.“ Mathilde verstand nur „Парикмахерская“ und wusste, was er meint. Sie nickte. Dann traute sie sich und fragte: „Dora?“ Hanulin zuckte mit den Schultern: „В больнице (Im Krankenhaus).“ In der Baracke erzählte Mathilde aufgeregt den Mädels: „Ich glaube, Dora lebt. Hanulin sagte, sie wäre im Krankenhaus.“ Lisa schüttelte zweifelnd den Kopf: „Das glaube ich nicht. Bei so viel Blut. Man sah ja nicht mal ihr Gesicht vor lauter Blut. Und um ihre Maschine war auch heute noch das ganze Öl rot.“

Eine weitere Demütigung

Mathilde holte aus ihrem Mantelsaum den letzten Schein. Sie musste wirklich was mit ihrem Haar machen. Ihr schlossen sich Alvine und Magdalena an, die auch so dickes Haar hatten. Sie meldeten sich für zwei Stunden an der Wache ab, um zum Frisör zu gehen. Unterwegs überlegten die Frauen, wie sie erklären sollten, welchen Haarschnitt sie möchten. Alvine meinte: „Ich sage einfach, wie bei Lubow Orlowa. Ich denke, es wird mir stehen. Ich habe ja auch lockiges Haar.“ Mathilde stellte sich eine Frisur vor, die sie auf einem Plakat am Frisiersalon gesehen hatte – kurz, aber trotzdem schick. Magdalena fragte: „Wie heißt russisch „kurz“?“ „Ich glaube malenki“, meinte Mathilde unsicher. „Nein, das ist klein. Kurz heißt „krotki“, wusste es Alvine besser.

Die Friseure, zwei ältere Männer, amüsierten sich köstlich über die kaum russisch sprechenden Frauen. „Ну эти две хоть маленки и кротки хотят. А эта аж на Любовь Орлову замаxнулась. А денег-то хватит? (Na die zwei wollen wenigstens klein und kurz. Aber dieser gib Lubow Orlowa her! Und Geld hast du dafür?)“ Alvine streckte ihre Hand mit dem Geld vor. Magdalena und Mathilde zeigten auch ihr Geld. Der Alte schüttelte den Kopf und meinte, es reiche nur für „malenki-krotki“. Und sie verpassten den Frauen anstatt eines modischen Frauenschnitts einen Männerschnitt (полубокс). Es war noch eine Erniedrigung und Kränkung.

Schweigend, sich die Tränen verkneifend, kehrten sie in die Baracke zurück. Aber Probleme mit dem Haar gab es vorerst keine mehr – es ließ sich gut unter den Tüchern verstecken. Und bald war es den Frauen auch egal, wie sie aussehen. Sie wurden immer schwächer, fühlten sich ausgebrannt, hatten keine Energie mehr fürs Leben. Immer mehr starben. An der Waschanlage arbeiteten zwei russische Frauen – тётя Мarusja und тётя Pascha. Sie mussten auch sehr hart arbeiten, aber sie waren nicht hinter Stacheldraht. Sie bemitleideten die deutschen Frauen, denn diese wurden noch erniedrigt, als Feinde dargestellt, der Freiheit beraubt.

Im letzten Teil der Erzählung erfahren wir vom Hungerleid, dem die Frauen in der Trudarmee ausgesetzt waren, und wie sie das Kriegsende in der Gefangenschaft erlebten.

Teilen mit:

Все самое актуальное, важное и интересное - в Телеграм-канале «Немцы Казахстана». Будь в курсе событий! https://t.me/daz_asia