Am 26. September findet in Deutschland die Bundestagswahl statt. Angela Merkel tritt dabei nicht mehr selbst zur Wahl an. Nach langen 16 Jahren wählt die deutsche Bevölkerung also indirekt eine neue Kanzlerin oder einen neuen Kanzler. Die Bürgerinnen und Bürger haben eine große Auswahl: Bei insgesamt 54 Parteien können sie dieses Jahr ihr Kreuzchen setzen. Die erste Stimme geht dabei an einen Abgeordneten aus dem Wahlkreis, die zweite geht direkt an eine Partei und bestimmt dabei die Sitzverteilung im Bundestag mit.

Rund 1,5 Millionen der in Deutschland lebenden Spätaussiedler aus Russland und den ehemaligen Mitgliedstaaten der UdSSR sind wahlberechtigt. Doch wie groß ist das generelle Interesse dieser Menschen an Politik? An welchen Themen machen Sie ihre Wahlentscheidung fest? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat sich Annabel Rosin in ihrer Heimat in Baden-Württemberg bei Russlanddeutschen unterschiedlicher Generationen umgehört.

„Ich habe alles, was ich brauche“

Es ist sicherlich kein Geheimnis, dass die älteren Russlanddeutschen – die heute 60 und älter sind – bei der Umsiedlung in die Bundesrepublik zu Beginn die größten Schwierigkeiten hatten. Wenn es um die Wahlthemen geht, fallen dabei überwiegend die gleichen Stichworte: Rente und Ausbildung. Durch die meist nicht anerkannten Abschlüsse und Berufsausbildungen aus der ehemaligen UdSSR hatten es viele schwer, überhaupt noch eine Arbeit zu finden – und wenn, waren dies oft nur unterqualifizierte Jobs.

Deutschland vor der Richtungsentscheidung

Viele wünschen sich, dass die Rentensätze erhöht und Abschlüsse gleichgestellt werden. Eine Rentnerin weist dabei auf ein bekanntes Problem hin: „Meine Rente reicht mir völlig und ich kann davon gut leben. Aber auch nur, weil ich keine Miete zahlen muss, sonst wäre das wirklich knapp. Ich möchte ja auch noch etwas meinen Enkelkindern geben.“ Andere wiederum betonen die Zufriedenheit mit der deutschen Politik und legen sich kaum oder gar nicht auf Themen fest, die für sie wichtig sind. „Ich habe alles, was ich brauche, mir könnte es so viel schlechter gehen“ antworten dabei sehr viele Rentner. Auf Nachfrage bekräftigen auch viele Angehörige dieser Altersgruppe, dass sie zur Wahl gehen und immer noch das wählen, was sie schon bei ihrer Umsiedlung in die Bundesrepublik gewählt haben.

„Kann im Moment nur Teilzeit arbeiten“

Etwas anders sehen die Prioritäten bei den 31- bis 59-Jährigen aus – der mittleren Generation von Spätaussiedlern. Viele von ihnen waren in den 90er Jahren bei ihrer Umsiedlung noch ziemlich jung. Sie hatten dadurch den Vorteil, oft noch eine Berufsausbildung in der Bundesrepublik abschließen zu können. Wenn es um Politik geht, steht für sie das Wohl der Kinder und Enkelkinder im Mittelpunkt. Viele erwähnen den Bedarf an besserer Kinderbetreuung, um berufstätige Eltern zu entlasten. „Ich kann aufgrund der verkürzten Öffnungszeiten in unserem Kindergarten im Moment nur Teilzeit arbeiten“ schildert eine Bürokauffrau ihr Problem. „Ein Vollzeitjob wäre kein Thema, dann wäre auch für uns alle ein bisschen mehr Geld da.“

Aber auch der Wunsch nach der Entlastung niedriger und mittlerer Einkommensgruppen – zu denen sie meist selbst zählen – ist in dieser Generation groß. Damit verbunden fordern viele auch eine Erhöhung des Mindestlohns, der aktuell in Deutschland bei 9,60 Euro pro Stunde liegt. „Ich bin froh, dass meine Kinder die Möglichkeit hatten, das Abitur zu machen, und wir ihnen ein Studium bezahlen konnten – und das, obwohl ich schon immer nur für einen geringen Stundenlohn arbeiten konnte“, sagt etwa eine Produktionshelferin. Das Gefühl von Verantwortung für die jüngere Generation beeinflusst die politische Haltung dieser mittleren Generation von Spätaussiedlern stark.

„Abitur in Corona-Zeiten war nicht einfach“

Diese jüngere Generation der 18- bis 30-jährigen Russlanddeutschen zeichnet meist das Unsichtbare aus: Die meisten von ihnen sind bereits in Deutschland geboren, sprechen akzentfrei Deutsch. Dass sie in gewisser Weise einen Migrationshintergrund haben, bleibt oft ein Geheimnis. Sie kamen von Anfang an in den Genuss des deutschen Bildungssystems, und viele von Ihnen haben auch einen Hochschulabschluss. Darunter sind auch viele Erstwählerinnen und Erstwähler, die keine andere Kanzlerschaft als die von Angela Merkel aktiv miterlebt haben.

Auf die Frage, wie sie zur Bundestagswahl stehen, reagieren sie deutlich präziser als ihre Eltern oder Großeltern. Das generelle Interesse an Politik scheint bei ihnen deutlich größer zu sein. Infrastruktur, der öffentliche Nah- und Fernverkehr, aber auch die Angleichung der Löhne von Männern und Frauen und die generelle Zukunftssicherung sind die politischen Themen, die für sie im Vordergrund stehen. Am häufigsten jedoch bekommt man das Wort „Digitalisierung“ zu hören. Gerade Schulabgänger erwähnen die Wichtigkeit von Investitionen etwa in Laptops und Tablets – für die Schule, vor allem aber auch für das Homeschooling in Corona-Zeiten.

„Das Abitur in solch einer Zeit zu machen, war nicht einfach, gerade wenn man seine Oberstufenzeit, die einen auf die Prüfungen vorbereiten soll, meist zu Hause am Computer verbracht hat. Das hat gezeigt, wie wichtig schnelleres Internet und die Endgeräte dazu sind. Dafür sollte der deutsche Staat in Zukunft mehr investieren“, so ein Abiturient des aktuellen Jahrgangs. Aber auch die Debatten um die Klimapolitik kommt bei den Jungen sehr häufig zur Sprache, wie die Antwort einer Studentin auf Anfrage der DAZ zeigt: „Wir haben noch eine lange Zeit auf diesem Planeten vor uns, und müssen auch in Zukunft Extremwetter wie Starkregen oder auch Waldbrände durch extreme Trockenheit vermeiden.“.

Der Blick auf die Ära Merkel

Die unterschiedlichen Prioritäten und Interessen hängen letztlich auch mit der Sozialisierung zusammen. Einen großen Einfluss auf die politische Einstellung hat dabei die Frage, ob und wie lange jemand in der Sowjetunion gelebt hat. Während die Älteren, die lange in einem eher autoritären System gelebt haben und somit weniger mit demokratischen Rechten in Kontakt gekommen sind, gleichgültiger gegenüber politischen Fragen stehen, zeigt gerade die jüngere, überwiegend in Deutschland geborene Generation eine offenere und bewusstere Einstellung zur deutschen Politik. Bei der Frage indes, wie sie auf die Ära Merkel zurückblicken, sind sich unsere Gesprächspartner aus allen Generationen einig: eine sympathische, ehrliche und pflichtbewusste Frau bleibt durch ihre lange, solide Amtszeit allen in guter Erinnerung – auch wenn diese Ansicht sicher nicht alle Spätaussiedler in Deutschland teilen.

Annabel Rosin

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