Vor beinahe 19 Jahren fiel die innerdeutsche Grenze. Damit hatte der großflächig restriktiv durchgeführte Versuch der Heranbildung eines neuen Menschen- und Gesellschaftstypus im Osten Deutschlands ein Ende. Nachdem Ungarn seine Grenze zu Österreich geöffnet hatte, strömten Tausende durch dieses Nadelöhr in den Westen, getrieben von unterschiedlichen Motiven. Hauptantrieb war wohl bei den meisten, dem verlogenen und maroden System DDR zu entkommen und sich nach eigenem Geschick verwirklichen zu können.
Ein großer Teil der DDR-Bevölkerung feierte den Mauerfall als Befreiung. Andere, die den Aufbau eines alternativen Gesellschaftsmodells zum Kapitalismus als Vision einer besseren Welt betrachtet hatten und die Schüsse an der Mauer, die Bespitzelung durch die Staatssicherheit und die Inhaftierung Andersdenkender als notwendiges Übel akzeptiert hatten, empfanden Bitterkeit und Enttäuschung.
Vorgang ohne Vorbild
Die Wiedervereinigung Deutschlands ist ein Präzedenzfall. Es gibt in der Geschichte kein Beispiel auch nur ähnlicher Natur, aus dem man hätte Lehren für ein solches Projekt ziehen können. Es ist nicht zum befürchteten Bürgerkrieg gekommen, das ist das Wichtigste und ein Indiz für die menschliche Reife der sich damals gegenüberstehenden Beteiligten.
Die effiziente Ökonomie des deutschen Westens hat dafür gesorgt, dass die Infrastruktur im Osten in kurzer Zeit auf einen Stand gebracht wurde, die den der Altbundesrepublik teilweise übersteigt. Es ist wahrscheinlich niemand an den direkten Folgen der Wiedervereinigung ernsthaft zu Schaden gekommen. Wir haben also allen Grund, den 3. Oktober als Feiertag zu betrachten.
Warum stehen sich Ost und West nach 18 Jahren teilweise immer noch skeptisch, ablehnend oder gar feindselig gegenüber? Ost- und Westdeutschland waren glücklicherweise nicht so lange getrennt, dass sie einander sprachlich nicht mehr verstehen würden. Die Trennung war aber lang genug und die Erziehungs- und Sozialisierungssysteme so verschieden, dass beim Aufeinandertreffen nach vierzigjähriger Distanz schnell klar wurde, wie sehr man sich einander entfremdet hatte.
So fremd und so vertraut
So mancher Alt-BRD-Bewohner verschloss nach kurzer Euphorie Tür und Tor vor im stinkenden Trabant herandräuenden, Stonewash-Jeans tragenden Dialektsprechern, die sich vor laufenden Fernsehkameras um Begrüßungsgeld, Gratis-Bananen und –Bildzeitung rangelten. Der eine oder andere im Westen beheimatete Bildungsbürger empfand die in Sachen Weltläufigkeit und Streitkultur ungeübten Ex-DDR-Bürger nicht selten als peinlich.
Letztere hingegen hatten ihre Lektion in einer ungeheuren Welle von Haustürverkäufern, Drückerkolonnen, echten und falschen Finanzberatern und Versicherungsverkäufern zu lernen. In bestimmten Autohändlerkreisen des Westens machte damals ein zynischer Slogan die Runde: „Jeder Rost geht nach Ost“. So manche Rostlaube wurde in letzter Sekunde von der Schrottpresse auf den LKW geladen und im Osten auf eilends dahin improvisierten Feld- und Wiesenmärkten zu Wucherpreisen verhökert.
Verhökert wurden auch die noch halbwegs verwertbaren Reste der einstigen DDR-Betriebslandschaft. Zumindest in der Wahrnehmung Einheimischer war die „symbolische Mark“, für die nicht wenige mittlere Betriebe über den Treuhandtisch gingen, schwer vermittelbar.
Insofern war die erste Begegnung – die ja so oft die prägende ist – für das geplante und alternativlose Zusammenwachsen beider Bevölkerungsteile verhängnisvoll.
Champagner mit Beigeschmack
Die große Hoffnung, dass mit dem neuen, vereinten Deutschland und dem Ende des kalten Krieges zwischen Ost und West eine umfassende Abrüstung beginnen würde, hat sich nicht erfüllt. Die Rüstungsausgaben weltweit sind von 1998 bis 2007 um reale 45 Prozent gestiegen, heißt es im aktuellen Jahrbuch des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Deutschland belegte im Jahr 2007 den dritten Platz hinter den USA und Russland beim Export konventioneller Waffen.
„Waffenexporte wirken wie Brandbeschleuniger“ schreibt Dr. Wolfgang Kötter, Dozent an der Sektion Völkerrecht und internationale Politik an der Hochschule für Recht und Verwaltung in Potsdam.
Die Champagnerlaune wird uns am dritten Oktober also durch Wermutstropfen vergällt werden. Wir sollten unseren Kelch dennoch leeren und im Rahmen unserer Möglichkeiten alles daransetzen, dass er im nächsten Jahr weniger Bitternis enthält. Und – nicht nur verhaltene – Freude angesichts der gesamtdeutschen Entwicklung der vergangenen neunzehn Jahre ist absolut legitim.
Von Ulrich Steffen Eck
03/10/08