Irina Pracht stammt aus einer wolgadeutschen Familie. Die bewegte und tragische Geschichte ihrer Vorfahren hat sie über die Jahre viel beschäftigt. Für uns hat sie aufgeschrieben, was ihre Großmutter während der schlimmsten Jahre sowjetischer Repression erlebt hat und wie es ihr erging, als der Krieg zu Ende war.
Mein neues Leben in Deutschland begann 1989, als meine Großmutter Dorothea Wagner, geb. Hujo, mit ihrem jüngsten Sohn, seiner Frau und ihren beiden Kindern von Russland in die BRD ausreisten.
Damals war ich zwölf Jahre alt und wusste nur wenig über Deutschland, vor allem nichts über die BRD. Meine Großmutter war damals bereits siebzig Jahre alt. Bis zu ihrer Ausreise hatte sie in Kasachstan, in der Stadt Ekibastus gelebt und als Putzfrau gearbeitet. Angesichts ihrer geringen Rente wollte sie weiterarbeiten, um sich kleine „Extras“ kaufen zu können. Sie hatte eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung und zusammen mit ihrem Sohn eine Datscha außerhalb der Stadt.
Mein Großvater, Johann Wagner, war zu diesem Zeitpunkt bereits neun Jahre tot. Er starb 1980 mit nur sechsundfünfzig Jahren an Krebs im russischen Dorf Kolywanskoje. Das ist in der Nähe von Barnaul in Sibirien. Nach dem Tod meines Großvaters zog meine Großmutter nach Kasachstan zu ihren beiden Söhnen. Sie waren verheiratet, hatten Kinder und gute Jobs in Ekibastus.
Harte Kindheit
Großmutter wurde am 16. Februar 1919 im Dorf Schaffhausen (heute Wolkowo) im äußersten Norden des wolgadeutschen Siedlungsgebiets in Russland geboren. Sie war die erste Tochter der Familie (insgesamt waren es vier). Der Vater war 1928 an Typhus erkrankt, nachdem er in eine andere Stadt gefahren war, um Weizen zu verkaufen. Eine fremde Familie pflegte ihn gesund, und er kam nach einiger Zeit wieder zurück; allerdings hatte er keine Beine mehr. Das war für die Familie eine Tragödie.
Meine Großmutter erinnerte sich: „Ich war drei Jahre alt, als sie uns unseren Tata Monate später auf einem Pferdewagen brachten. Er hatte keine Beine mehr und war ein Krüppel. Meine Mama wollte ihn nicht mehr haben und sagte, die Leute sollten ihn wieder mitnehmen. Vaters Mutter jedoch schimpfte auf die Mama. Natürlich nahm sie ihn wieder.“
Als ältestes Kind in der Familie musste meine Großmutter zu Hause sehr hart arbeiten. Sie musste Holz hacken, Wasser holen, das Haus sauber halten und auf die jüngeren Schwestern aufpassen. Mit nur sechs Jahren musste sie um vier Uhr morgens aufstehen und das einzige Pferd auf die Weide treiben. Dieses Pferd war für die siebenköpfige Familie Gold wert, denn es war nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern auch zum Pflügen da.
Der große Hunger
Das Pferd wurde der Familie jedoch 1930 im Rahmen des Enteignungsprogramms der Sowjetunion weggenommen. „‘Nehmt uns nicht den Gaul!‘, schrie mein Tata. ‚Wie sollen wir ohne ihn leben?‘“, erinnerte sich meine Großmutter an den Tag, als die Bolschewiken mit dem Pferd davongingen. Und dann kam der große Hunger.
Der Vater meiner Großmutter war oft aggressiv und unzufrieden. Als Familienoberhaupt ohne Beine konnte er nur wenig machen und kam sich oft unnütz vor. Seine Wut und Unzufriedenheit ließ er an seinen Kindern aus. Der erste Mann meiner Großmutter hieß Johannes Petri. Ihn hatte sie sehr gern; er war ihre erste große Liebe. Einige Jahre vor ihrem Tod erzählte sie immer wieder von ihm.
Liebe unter düsteren Vorzeichen
Sie heirateten 1939, als Großmutter zwanzig Jahre alt war. Es war ein sehr kalter und windiger Tag. Jemand von den Hochzeitsgästen prophezeite, dass diese Ehe unglücklich sein würde, weil es so außergewöhnlich kalt an diesem Tag war. Und so sollte es auch kommen. Anfang 1940 bekamen die beiden den Sohn Arthur, der im Alter von einem Jahr krank wurde und starb. Nach kurzer Zeit wurde meine Großmutter wieder schwanger. Anfang 1941 starb auch dieses Kind (ein Mädchen) bei der Geburt.
Im selben Monat wurde Johannes zum Wehrdienst eingezogen. Erst fünf Monate später, im Juli 1941, besuchte meine Großmutter ihren Ehemann in der Hoffnung, zum dritten Mal schwanger zu werden. Die Nachrichten von einem möglichen Zweiten Weltkrieg waren aber schon in aller Munde. Am 22. Juli brach der Krieg dann tatsächlich aus. Am selben Tag verließ meine Großmutter ihren Johannes, um nach Hause zu ihren Eltern zu fahren. Sie kam sicher in Schaffhausen an der Wolga an. Von ihrem Johannes hat sie danach allerdings nie wieder etwas gehört, und sie wurde auch nicht das dritte Mal schwanger.
Deportation nach Sibirien
1941 wurde meine Großmutter mit ihrer gesamten Familie, darunter ihren Eltern und Geschwistern, nach Sibirien zwangsumgesiedelt. Nur wenige persönliche Sachen nahmen sie mit. Der Vater meiner Großmutter hatte einige historische Dokumente im Haus gehabt, die er nicht mitnahm. Er dachte, sie würden wieder zurückkommen. In Wirklichkeit kehrten sie nie wieder heim; alles wurde Ihnen weggenommen und nichts ersetzt.
An der Wolga warteten sie auf ein „Schiffchen“, das sie nach Saratow bringen würde. „Das Vieh hörten wir kreischen, die Kühe mussten gemolken werden. Das tat uns in der Seele weh“, erinnerte sich meine Großmutter später. In Saratow wurden sie in Viehwaggons gestopft und fuhren einer ungewissen Zukunft entgegen. Tausende Wolgadeutsche starben auf dieser mehrtägigen Fahrt nach Sibirien. „Wir wurden in Viehwaggons abtransportiert, in denen wir auch unsere Notdurft verrichten mussten.“, erzählte mir meine Großmutter. Schweren Herzens und mit Tränen in den Augen schilderte sie mir diese schreckliche Zeit und das Elend.
„Wir kamen uns wie Schwerverbrecher vor“
Im südsibirischen Barnaul angekommen, wurden sie weiter ins Dorf Kolywanskoje abtransportiert. Der Vater meiner Großmutter, die Mutter und die beiden jüngsten Schwestern blieben da, meine Großmutter und ihre andere Schwester wurden jedoch ins Arbeitslager (die Trudarmee) gebracht, wo sie mit anderen Frauen bis 1946 Bäume fällen mussten.
Das Lager war umzäunt und überwacht. „Wir kamen uns wie Schwerverbrecher vor, die Dokumente nahmen sie uns weg, und wir hatten keine Rechte“, berichtete mir meine Großmutter. In den Arbeitslagern mussten die Menschen hungern und frieren, oder sie wurden krank und starben an mangelnder Hygiene. Und das alles nur, weil sie Wolgadeutsche waren. Einmal fragte Mutter meine Großmutter, wie es denn war, wenn Frauen in der Trudarmee ihre Periode bekamen. Da antwortete die Großmutter, dass die Frauen diese damals überhaupt nicht bekamen. Auch wenn es unglaublich klingt: Der Körper hatte das einfach blockiert.
Das Leben ging jedoch weiter. Der Krieg war 1945 zu Ende, die Zwangarbeiterkolonne meiner Großmutter wurde 1946 aufgelöst, und die Menschen wurden erneut in verschiedene Regionen umgesiedelt. Meine Großmutter durfte zurück zu ihren Eltern nach Kolywanskoe ziehen. Dort wartete sie weitere acht lange Jahre sehnsüchtig auf ihren Johannes – umsonst.
Liebe und Respekt
Aber dass ein Mensch nicht lange alleine sein kann und will, ist nur menschlich. Meine Großmutter war schon dreißig Jahre alt, als sie 1949 erneut heiratete: meinen Großvater Johann. Er war fünf Jahre junger als meine Großmutter und hatte bereits einen neun Monate alten Sohn. Seine erste Frau war an einer Lungenentzündung gestorben. Meine Großeltern bekamen zusammen noch zwei weitere Kinder: meine Mutter und einen Sohn.
Als sie in den 1990er Jahren als Mittsiebzigerin bereits in Deutschland lebte, erfuhr sie, dass ihr erster Ehemann während des Krieges in Deutschland gewesen war. Durch seine deutsche Herkunft hatte er damals sogar die Möglichkeit, dort zu bleiben. Er entschied sich jedoch dagegen und verließ Deutschland, um zu seiner Dortje zurückzukehren. Doch zuhause kam er bekanntlich nie wieder an.
Bis zu ihrem Tod wusste meine Großmutter nicht genau, was mit ihrem ersten Ehemann geschehen war. Allein der Gedanke, dass er zurück zu seiner Dortje wollte, erfüllte sie mit viel Liebe und Respekt vor ihm. Oft erzählte sie in den letzten Jahren vor ihrem Tod von damals. Sie starb im Haus ihrer Tochter am 4. Oktober 2015 und wurde sechsundneunzig Jahre alt.