Vom Pathos der Distanz: Höflichkeitsformeln haben im Deutschen und im Russischen verschiedene Bedeutungen. Nicht selten entscheidet der richtige Gebrauch über den Eindruck, den man hinterlässt. Eine interkulturelle Anleitung

Man hört es immer wieder: Deutsche, die nach Russland, Kasachstan oder ein anderes Land kommen, wo sie versuchen, ihre ersten Russischkenntnisse anzuwenden, sind schockiert über die Unhöflichkeit der Menschen. Und in Deutschland gelten Russen nicht als ein besonders höflicher Menschenschlag. Auf russischer Seite hingegen stößt man immer wieder auf das Erstaunen über die Höflichkeit in Deutschland, wo man immerzu „bitte” und „danke” sagt. Fragt man Russen nach ihren Stereotypen über Deutsche, steht Höflichkeit meist weit oben auf der Liste.

Sind Deutsche also wirklich so schrecklich höflich und Russen so dreist, wie man ihnen oft nachsagt? Nehmen wir einmal das Beispiel „bitte” und sein russisches Pendant „pozhalujsta”, Wörter, die gern als Maßstab für Höflichkeit angesehen werden. Die Frage ist: Was versteht man eigentlich im Deutschen unter einer Bitte und was im Russischen? Ein Blick in die Wörterbücher zeigt, dass „Bitte” und „pros’ba” gar nicht genau dasselbe bedeuten: Eine Bitte ist ein Wunsch, den man jemandem gegenüber äußert, sagt der Duden. Im Ozhegov, dem russischen Duden, steht, dass man mit einer „pros’ba” jemanden auffordert, ein Bedürfnis oder einen Wunsch zu erfüllen.

Im Deutschen ist eine Bitte also so etwas wie ein Wunsch – aber wünschen kann man sich ja vieles, wie man so sagt. Ob einem das dann auch erfüllt wird, steht auf einem anderen Blatt. Wenn ich jemanden auf Deutsch bitte, kann ich in der Regel nicht wissen, ob mein Gegenüber mir diesen Wunsch auch erfüllen wird. Daher kann ich ihm nicht einfach sagen, was ich von ihm will, sondern muss ihn positiv stimmen, damit er das dann auch tut.

Wenn ich dagegen auf Russisch eine „pros’ba” äußern will, gehe ich schon eher davon aus, dass der andere das auch erfüllen kann und wird – die Bitte kommt hier eher einer Aufforderung gleich.

Nun hat Höflichkeit ja auch etwas damit zu tun, mit wem man gerade spricht und wen man um was bitten möchte. Ein alltägliches Beispiel: Wir sitzen mit Freunden oder der Familie zu Hause beim Essen, und jemand möchte sein Essen nachsalzen, kommt aber an den Salzstreuer nicht heran. Er muss also jemanden bitten, ihn herüberzureichen. Das ist nun wirklich kein großer Umstand, und es gibt eigentlich auch nichts, was den anderen davon abhalten könnte. Auf Russisch kann ich ihn also mit einem einfachen „Daj sol’”, oder ein bisschen netter „Podaj sol’” auffordern, das Salz zu reichen. Daraufhin bekomme ich es im Allgemeinen auch, und alle sind zufrieden. Im Deutschen allerdings würde dieser Satz -„Gib mir das Salz”- eine ziemlich schlechte Stimmung verbreiten. Ein Kommentar wie „Kannst du nicht ‚bitte’ sagen?” würde unausweichlich folgen. Im Deutschen fordert man nicht auf, dass etwas getan wird, sondern man drückt seinen Wunsch danach aus – auch wenn es um die einfachste Sache der Welt geht und häufig auch, wenn es meine besten Bekannten sind. Bei einem „Gib mir mal bitte das Salz” wird man ganz sicher seinen Wunsch erfüllt bekommen. Natürlich gibt es dabei auch Alternativen ohne „bitte”, wenn man zum Beispiel die Frage nett betont. „Kannst du mir mal das Salz geben?“ Hauptsache, es sieht nicht irgendwie wie eine Aufforderung oder gar ein Befehl aus.

Die nächste Szene spielt wieder beim Essen, aber diesmal in einer Kantine. Ich muss einen fremden Menschen bitten, mir das Salz zu geben. Es muss also alles ein bisschen formeller, sprich: höflicher ablaufen. Hier kommt im Russischen nun das Wort „pozhalujsta” zum Einsatz: „Peredajte, pozhalujsta, sol’”. Im Deutschen reicht hier das „Wörtchen mit zwei t” allein dagegen nicht aus, denn das wird ja schon in informellen Situationen verwendet. Es muss ebenfalls alles eine Stufe höflicher ablaufen, zum Beispiel als Frage plus „bitte”: „Können Sie mir bitte das Salz reichen?” oder ein Konjunktiv plus „bitte”: „Würden Sie mir bitte das Salz reichen?” Wenn alles miteinander kombiniert wird, dann hat man ein sehr hohes Niveau an Höflichkeit erreicht: „Könnten Sie mir bitte das Salz reichen?” Das gleiche gilt aber auch für die russische Variante, je mehr Höflichkeitssignale kombiniert werden, desto höher das Niveau. Etwa mit einer netten Phrase wie: „Bud’te dobry, peredajte, pozhalujsta, sol’.“

Und warum redet man weder im Deutschen noch im Russischen mit Freunden nicht genauso höflich wie mit Fremden oder Ranghöheren? Weil Höflichkeit auch ein Zeichen von Distanz oder Respekt ist. Beispielsweise zeigt ein Student durch bestimmte Höflichkeitsformulierungen einem Professor seinen Respekt. Er distanziert sich sprachlich und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass er in der Gesellschaftshierarchie weiter unten steht. Diese Distanz ist im Privatbereich natürlich nicht nötig. Im Gegenteil: Hier ist übertriebene Höflichkeit eher unangebracht. Eher würde man sich sogar gekränkt fühlen, wenn enge Freunde plötzlich umständlich höflich mit einem reden. Und hier liegt auch der entscheidende Punkt: Höflichkeit an sich ist noch kein positives Zeichen. Es kommt immer auf die jeweilige Situation an, ob etwas Gesagtes passend ist oder nicht. Was aber in einer bestimmten Situation nun als angemessen gilt, kann von Kultur zu Kultur ganz unterschiedlich sein. Einen guten Bekannten um eine Kleinigkeit zu bitten, bedarf im Russischen nicht unbedingt einer Höflichkeitsfloskel, das könnte sogar übertrieben wirken. Im Deutschen sollte eine Bitte besser nicht wie eine Aufforderung klingen.

Übrigens werden Deutsche in England wiederum als nicht sehr höflich empfunden, weil sie das dort übliche, ausgiebige Bitt- und Dankesprozedere nicht beherrschen.

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