Im Norden Kirgisistans gründeten deutsche Siedler vor fast 100 Jahren das Dorf Bergtal. Heute nennt es sich Rot-Front und viele Nachfahren der Siedler leben noch dort. Doch werden es immer weniger. In einem Museum versucht ein ehemaliger Lehrer die Geschichte der Deutschen in Kirgisistan zu erhalten.

In dem Dorf Bergtal plaudern Wilhelm und sein Nachbar Franz über den Gartenzaun hinweg, wünschen sich einen „Schönen Abend!“ und machen sich wieder an die Gartenarbeit. Eine Szene, wie sie in Deutschland nicht alltäglicher sein könnte. Nur sind Wilhelm und Franz nicht in Deutschland. Genauso wenig liegt Bergtal, auch bekannt als Rot-Front, in Deutschland.

Um diesen Ort zu finden, muss man auf der Landkarte weiter nach Osten gehen, bis nach Kirgisistan. Zwischen der Hauptstadt Bischkek und dem Yssykköl-See liegt das Dorf am Rande des Tian-Shan-Gebirges. Entlang von zwei Straßen und mit knapp achthundert Einwohnern, ist es auf den ersten Blick nicht von anderen Dörfern Kirgistans zu unterscheiden.

Doch schaut man sich genauer um, fallen Unterschiede auf. Häuser sind anders gebaut, am Ortseingang findet man neben dem Namen Рот-Фронт (Rot-Front) ein weiteres Schild, auf dem in lateinischen Lettern „Bergtal“ steht. Und ein paar hundert Meter weiter findet man ein bescheidenes Gebetshaus. Es gehört zu einer kleinen Gemeinschaft Kirgisistans, die diesen Ort prägt: den Mennoniten.

Geschichte der Mennoniten

Die Geschichte der Mennoniten beginnt in Deutschland. Zur Reformationszeit bildeten sie eine von vielen Bewegungen, die jene von der römisch-katholischen Kirche diktierte Interpretation der Bibel ablehnten. Nachdem Mennoniten in Europa verfolgt wurden, flohen die meisten ins Ausland. Heute lebt die religiöse Gemeinschaft verteilt in zahlreichen Ländern, vor allem Nordamerika und Afrika.

Die Mennoniten, die sich in Kirgisistan niederließen, begannen ihre Reise nach Osten im frühen 16. Jahrhundert aus den heutigen Norden der Niederlande. Nachdem sie sich in Westpreußen (heute Polen) niederließen, zogen sie in die von Russland kontrollierte Ukraine und im späten 19. Jahrhundert bis nach Kirgisistan.

Anfangs siedelten sich Deutsche im Westen Kirgisistans an. Im Talas-Tal entstanden Ortschaften mit Namen wie Köppental, Nikolaipol und Gnadenfeld. Bis sie sich schließlich in dem wesentlich fruchtbareren Gebiet östlich der Hauptstadt Bischkek niederließen, wo 1927 auch das Dorf Bergtal entstand.

Die ursprünglichen deutschen Namen der Siedlungen sind größtenteils verloren gegangen. Unter sowjetischer Herrschaft wurden die Dörfer umgetauft. So wurde aus Bergtal das heutige Rot-Front. Jedoch nennen es die Mennoniten bis heute weiterhin Bergtal. Nachdem die Mennoniten die Verfolgung der römisch-katholischen Kirche sowie die Zeiten des russischen Reiches und der Sowjetunion überlebt haben, ist ihre heutige Gemeinschaft in Zentralasien klein und schrumpft. Einer, der versucht, ihre Geschichte in Rot-Front zu erhalten, ist Wilhelm Lategahn.

Ein Deutschlehrer in Bergtal

Vor elf Jahren kam Wilhelm nach Rot-Front, um hier als Deutschlehrer zu arbeiten. Davor leitete er eine Förderschule in seiner deutschen Heimatstadt Soest. Nachdem er gemeinsam mit einem Freund mehrmals in die ehemalige Sowjetunion radelte, lernte er die Region lieben. Durch die von Deutschland finanzierte Auslandsschularbeit fand Wilhelm eine Stelle in Rot-Front und entschloss sich so, seine Arbeit als Lehrer in Kirgisistan fortzusetzen.

Anfangs hatte Wilhelm in Rot-Front Probleme damit, die Kinder in die Schule zu bekommen. Als er immer wieder leere Klassenzimmer vorfand, fing er an, die Häuser im Dorf abzugehen und die Schüler einzusammeln.

„Immer gab es Gründe, weshalb die Kinder nicht kommen konnten“, so Wilhelm. „Entweder musste das Vieh versorgt, auf die Kleinen aufgepasst oder irgendetwas anderes erledigt werden.“ Irgendwann kamen die Kinder von selber in die Schule „damit dieser Deutsche nicht nervt“, erzählt er und lächelt.

Doch hat Wilhelm seine Zeit als Lehrer in Rot-Front augenscheinlich genossen und gerät ins Schwärmen, wenn er davon erzählt: „Mit den Kindern in der Schule Musik zu spielen war ein Traum.“ Früher sei in Bergtal viel zuhause gesungen worden und die Kinder hatten dadurch ein gut trainiertes Gespür für Melodie und Rhythmus: „Wir haben problemlos zu acht im Kanon gesungen!“

Das Andenken der Mennoniten

Einer seiner Vorgänger gründete neben der Schule ein Museum, das die Geschichte der Mennoniten aus Bergtal behandelt. Als vor wenigen Jahren das Gebäude durch einen Unfall abbrannte, verlegte Wilhelm das Museum in ein kleines Seitengebäude neben seinem Haus. Dort sammelt er alles, was er zur Geschichte der Deutschen aus Bergtal finden kann. Neben Karten und anderen Zeitdokumenten finden sich darin allerlei Alltagsgegenstände der Mennoniten: Liederbücher, Spinnräder, Geschirr.

Wenn Familien aus Rot-Front wegziehen, erkundigt sich Wilhelm nach alten Objekten, wie Kleidung oder Büchern, um sie in dem Museum aufzubewahren. Er restauriert die alten Gegenstände und macht sie der Öffentlichkeit zugänglich. Weil der Platz in dem Museum langsam eng wird, baut Wilhelm aktuell einen weiteren Raum aus, in dem bald weitere Exponate ausgestellt werden. Je mehr Mennoniten wegziehen, desto größer wird die Sammlung. Heute geht die Geschichte der Mennoniten aus Bergtal größtenteils an anderen Orten weiter.

Mennoniten zurück in Deutschland

Die meisten Mennoniten sind mittlerweile aus Rot-Front weggezogen. Als Wilhelm vor knapp elf Jahren in den Ort zog, lebten hier noch um die 200 von ihnen. Heute seien es weniger als die Hälfte.

Wie auch viele Russlanddeutsche wanderten die meisten Mennoniten aus. Deutschland verspricht mehr Möglichkeiten und viele versuchen deshalb dort ihr Glück. Manche können in der neuen Heimat jedoch nur schwer Fuß fassen, da ihnen oft die Qualifikation fehlt: ”Die Meisten können zwar gut mit Tieren umgehen, kennen die Landwirtschaft und sind gute Handwerker, haben aber keinerlei Ausbildung vorzuweisen.”

Dennoch hat sich ein großer Teil der Mennoniten in Deutschland verteilt. Zum 90. Jubiläum Bergtals kamen im nordrhein-westfälischen Detmold beispielsweise über eintausend Leute zusammen. „Später habe sogar ich erfahren, dass mein alter Nachbarn in Soest ursprünglich aus Rot-Front stammt“, erzählt Wilhelm.

Rot-Front geht mit der Zeit

Die Deutschen in Rot Front lebten über Generationen in einer geschlossenen Welt. Zuhause wurde Deutsch gesprochen, die Religion hatte ihren festen Bestandteil im Alltag und moderne Technik wie Handys oder Fernseher wurden lange gemieden. “Die Entwicklungen kommen hier vielleicht etwas verzögert an”, schildert Wilhelm. „An neue Technik gehen die Leute etwas bedachter heran. Sie wägen erstmal ab, ob es sinnvoll ist, sich dies und jenes anzuschaffen.“

Inzwischen ist aber auch Rot-Front in der Gegenwart angekommen. Geht man durch die Straßen, sieht man auch hier Jugendliche mit Smartphones in der Hand. Genauso ist fast jeder schon mal in Deutschland gewesen und hat dort Kontakte. Die Mennoniten sind nicht weltfremd, nur stellen es Medien oft so dar.

„Die meisten hier reden nicht mehr mit Journalisten“, erzählt Wilhelm. Viel zu oft seien Reporter hergekommen und haben die Mennoniten als rückwärtsgewandte Einsiedler dargestellt, als die „Amisch Zentralasiens“, die in der Vergangenheit lebten. „Viele haben die Berichte danach gelesen, meinen: ‘so hab ich das aber nicht gesagt’, und ärgern sich über das Bild, das über Rot-Front verbreitet wird.”

Deutschlehrer in Pension

Im Gegensatz zu vielen der Mennoniten entschloss sich Wilhelm, zu bleiben und seinen Lebensabend in Kirgisistan zu verbringen. Da es an Geld fehlt, wurde der Deutschunterricht in Rot-Front gestrichen.

„Früher wurden neun Lehrer durch Deutschland finanziert, heute sind es gerade noch zwei”, erklärt er. Vorerst bleibt er der letzte Deutschlehrer in Rot-Front.

Antonio Prokscha

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