Am 6. März 1937 wurde in dem Dorf Maslennikowo nahe dem Provinzstädtchen Tutajew in der Oblast Jaroslawl ein Mädchen geboren. Sie war die Tochter einer Textilarbeiterin und eines Traktoristen, der im Sowjetisch-Finnischen Winterkrieg zwischen 1939 und 1940 fiel. Schon als Jugendliche arbeitete die junge Frau in einer Autoreifenfabrik, später in einem Spinnerei-Kombinat als Zuschneiderin und Büglerin. Soweit der klassische Weg eines durchschnittlichen sowjetischen Arbeiterlebens. Doch die junge Frau träumte von mehr, wollte hoch hinaus, griff im wahrsten Sinne des Wortes nach den Sternen. Später sagte sie in einem Interview: „Ich habe schon als Kind von einer Reise zu den Sternen geträumt. Zur Not wäre ich auf einem Besen hingeflogen.“ Valentina Wladimirowna Tereschkowa sollte als die erste Frau im Weltall in die Geschichte eingehen.

Im Jahr 1953 starb Josef Stalin, und eine Zeit des Schreckens, des Terrors und der Gewalt endete. Sein Nachfolger Nikita Chruschtschow leitete eine Politik der wirtschaftlichen und kulturellen Entspannung ein. Die sowjetische Bevölkerung konnte zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder aufatmen. Die Zeit des Chruschtschowschen Tauwetters war gekommen. Nikita Chruschtschow bemühte sich um politische Stabilität, wirtschaftlichen Aufschwung und außenpolitische Annäherung. Doch dies täuscht nicht darüber hinweg, dass Chruschtschow ein äußerst grober Geselle war. Sozialist und Proletarier durch und durch, fühlte er sich auf dem Getreidefeld wohler als auf dem internationalen politischen Parkett.

Unvergessen sind die Bilder des Gipfeltreffens von Wien, als das Ehepaar Chruschtschow auf das Präsidentenpaar Kennedy stieß. Mit der Ehefrau des sowjetischen Staatschefs Nina Chruschtschowa, die die Gestalt, die Frisur und den Kleidergeschmack einer plumpen Bauersfrau hatte, und der edlen, glamourösen Jackqueline Kennedy, First Lady der USA, trafen nicht nur Welten, sondern ganze Weltanschauungen und politische Systeme aufeinander. Legendär ist auch die sogenannte „Kukuruzwette“, die Nikita Chruschtschow im Jahr 1960 mit dem österreichischen Nationalratspräsidenten Leopold Figl schloss.

Chruschtschow, der sich während eines Staatsbesuches in Österreich überaus für den Misthaufen auf dem elterlichen Hof Figls interessierte, prahlte damit, dass der Mais in der Sowjetunion zehnmal soviel Ertrag bringen würde, wie der österreichische. Figl ging auf die Wette ein, der Wetteinsatz war ein Schwein. Die Überraschung war groß, als sich ein Jahr später der sowjetische Botschafter in Österreich in die nicht ganz ernst gemeinte Sache einschaltete und sich der Wette persönlich annahm. Ergebnis: Beide Aussaaten schienen beinahe gleichwertige Erträge abzuwerfen. Österreich hatte die Wette gewonnen. Die Wettschulden wurden von der Sowjetunion nie beglichen.

Der sowjetische Traum: Als Arbeiter im All

Die Maiswette mit Österreich interessierte im April 1961 international absolut niemanden. Am 12. April startete Juri Alexejewitsch Gagarin an Bord des Raumschiffs Wostok-1 vom Weltraumbahnhof Baikonur zu seinem legendären Flug in den Kosmos. Gagarin war damit der erste Mensch im Weltall, bescherte der Sowjetunion einen grandiosen Propagandaerfolg und brachte den Ostblock in Führung gegenüber der USA im bestimmenden Thema des Kalten Krieges dieser Tage – im Rennen um das Weltall. Kurzum, der Kalte Krieg und das Kräftemessen zwischen der USA und der Sowjetunion erreichte seinen ersten Höhepunkt, doch der erste Mann in der Sowjetunion war ein einfacher Mensch, ein Mann des Volkes.

Juri Gagarin allerdings war ein aufs Extremste durchtrainierter Hochleistungssportler, gestählter Soldat und militärischer Kampfflieger, und damit genau das Gegenteil zum Durchschnitt des sowjetischen Proletariers. Nikita Chruschtschow wollte dem Erzfeind im Kalten Krieg, der USA, beweisen, dass in der Sowjetunion auch der kleinste Arbeiter ins All fliegen konnte. Valentina Tereschkowa, die Textilarbeiterin aus einfachen Verhältnissen, war ab Mitte der 1950er Jahre begeisterte Fallschirmspringerin und große Bewunderin Juri Gagarins. Ihr gelang im Jahr 1962 nach mehreren Versuchen die Aufnahme in die Kosmonautenschule. Sie passte damit perfekt zum nächsten großen Propagandacoup der Sowjetunion.

Valentina Tereschkowa, Funkrufname Tschaika (Möwe), startete am 16. Juni 1963 an Bord des Raumschiffes Wostok-6 vom Kosmodrom Baikonur zu einer fast drei Tage dauernden Reise in den Weltraum und umrundete die Erde dabei 48 Mal. Nach ihrer Rückkehr zur Erde am 19. Juli wurde ihr der Ehrentitel „Fliegerkosmonaut der Sowjetunion“ verliehen. Die Propagandaaktion glückte. Sie wurde zur ersten Frau im Weltall und blieb dies bis zum Raumflug von Swetlana Sawitzkaja im Jahre 1982. Tereschkowa ist bis heute die einzige Frau in der Raumfahrtgeschichte, die alleine, ohne Begleitung in den Kosmos flog.

Baumwollproduktion unter sklavenähnlichen Bedingungen

Im Jahr 1936, ein Jahr vor der Geburt von Valentina Tereschkowa, entstand in Alma-Ata eine Teppichfabrik. Und ein Jahr vor ihrem legendären Raumflug wurde in dieser Fabrik die Produktion von Handarbeit auf maschinelle Knüpfung und Herstellung umgestellt. Zentralasien galt seit jeher als Zentrum des Baumwollanbaus und der Teppichproduktion. Bereits unter Josef Stalin wurde der Baumwollanbau in Zentralasien konzentriert. Baumwolle hatte strategische Bedeutung für die kosteneffiziente, massenweise Herstellung unter anderem von Soldatenkleidung. Zu diesem Zwecke wurden die Flüsse Amudarja und Syrdarja, an dessen Flusslauf das Kosmodrom Baikonur liegt, auf die Baumwollfelder Kasachstans, Usbekistans und Turkmenistans umgeleitet. Für den Aralsee, der nur aus diesen beiden Flüssen gespeist wird, löste diese Maßnahme eine Umweltkatastrophe aus. Doch dessen war man sich in den 1960er Jahren nicht bewusst. Tereschkowa absolvierte ihren Raumflug, und die Teppichfabrik von Alma-Ata trug ab dem Jahr 1964 ihren Namen.

In beinahe sklavenähnlichen Zuständen mussten selbst Schulkinder in den 1970er und 1980er Jahren auf den Baumwollfeldern Zentralasiens in den Sommern bei der Ernte helfen. Offiziell war die Sowjetunion Mitte der 1980er Jahre der größte Baumwollproduzent der Welt. Doch während der Wasserspiegel des Aralsees unaufhaltsam sank, konnte die Baumwollproduktion die Nachfrage der Sowjetunion bald bei weitem nicht mehr decken. Korruption und Misswirtschaft grassierten im Baumwollsektor. Die Unterschiede zwischen Planwirtschaft und Realität traten in der Endphase der Sowjetunion immer deutlicher zutage.

Valentina Tereschkowa wird Politikerin

Als der Vielvölkerstaat im Dezember 1991 zu existieren aufhörte, besaß die Tereschkowa-Teppichfabrik Alma-Ata sieben Haupt- und Nebenwerkshallen. Dort wurden Teppiche und Textilien nach dem Jacquard-Verfahren der automatisierten Herstellung von gemusterten Stoffen hergestellt. Auf Bestellung wurden auch Schmuckteppiche mit den Konterfeis hoher sowjetischer Persönlichkeiten aus Kultur und Politik angefertigt. Doch damit war spätestens ab 1992 Schluss. Die Fabrik wurde privatisiert und in die Aktiengesellschaft „Almaty Kilem“ umgewandelt. In einem letzten Rettungsversuch wurden neue Maschinen aus Deutschland angeschafft, doch es half nichts mehr. Die Fabrik wurde aufgelöst, technische Anlagen und Immobilien wurden veräußert.

Aus den ehemaligen Werkshallen wurden ab 2007 Gewerbeflächen. Seitdem befinden sich dort hinter einer fürchterlichen Pseudo-Renaissance-Kitschfassade ein Kaufhaus und einige Restaurants und Bars. Einzig ein Wandrelief aus den Sowjettagen, welches Frauen in kasachischer Tracht beim Teppichknüpfen zeigt, ist erfreulicherweise erhalten geblieben. Die Teppichherstellung ist für die Wirtschaft Kasachstans heute kaum mehr relevant. In Zentralasien setzt heute insbesondere Turkmenistan in großem Maße auf die Herstellung von hochwertigen und edlen Teppichen.

Valentina Tereschkowa, die „Möwe“ machte in den letzten Jahren eher in der russischen Politik von sich reden. Sie war einige Jahre lang Abgeordnete der Regierungspartei Einiges Russland im Regionalparlament der Oblast Jaroslawl. In dieser Funktion sprach sie sich noch im Jahr 2020 öffentlich für eine Verfassungsänderung zur Lockerung der Amtszeitbegrenzung des russischen Präsidenten aus. Doch die inzwischen hochbetagte Frau träumt wohl noch immer von den Sternen. Sie sagte im Jahr 2013 auf einer Pressekonferenz, sie wäre persönlich für einen Marsflug ohne Rückkehr bereit: „Der Mars ist mein Lieblingsplanet“, so Valentina Tereschkowa.

Philipp Dippl

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