Ende September besetzten die Taliban für zwei Wochen die Stadt Kunduz unweit der tadschikischen Grenze. Dies veranlasst nicht nur die angrenzenden zentralasiatischen Länder zu militärischen Maßnahmen, sondern lenkt auch die Aufmerksamkeit Russlands und der USA auf die Region. Sie eint in Zentralasien die Angst vor der terroristischen Bedrohung.

Am 28. September nahmen die Taliban Kunduz ein, eine Stadt im Norden Afghanistans, etwa 60 km von der tadschikischen Grenze. Die Stadt wurde von den afghanischen Streitkräften mit der Unterstützung der internationalen Koalition schnell wieder eingenommen. Zwei Wochen nach ihrem Einmarsch erklärten die Taliban ihren Rückzug aus Kunduz. Etwa zur selben Zeit griffen bewaffnete Gruppen weiter westlich, ein paar Kilometer vor der turkmenischen Grenze, die Stadt Majmana an.

Die Rückkehr der Taliban am Rande des postsowjetischen Zentralasiens bewegt die regionale Diplomatie und Politik. Sie schürt Angst vor den Taliban selbst wie auch vor einem Eindringen des islamischen Staates (IS) in Afghanistan. Ein Überblick über die Gewinner und Verlierer dieser Furcht und die politischen, strategischen und Sicherheitsinteressen der Akteure in der Region.

Turkmenistan: Sorgen ums Gas

Die viertgrößte Flagge der Welt weht in Aschgabat. | Bild: Bjørn Christian Tørrissen

Turkmenistan ist der einzige der drei zentralasiatischen Nachbarstaaten Afghanistans, welcher keine ausländische Militärbasis besitzt, zumindest bis zur baldigen Schließung des deutschen Stützpunkts in Termez (Usbekistan). Seine Grenze mit Afghanistan ist ganze 745 km lang – und brüchig. Im Anschluss an die Offensive der Taliban Ende September hat der turkmenische Präsident den Verteidigungsminister entlassen und Panzer in den Süden des Landes beordert.

Im vergangenen Jahr berichteten russischsprachige Medien oft über die Anwesenheit von IS-Streitkräften in der Nähe der afghanisch-turkmenischen Grenze. Die ständige Sorge um eine instabile Grenze kann durch die ethnische Verteilung in der Region erklärt werden. Die afghanische Seite ist von großen turkmenischen Minderheiten bewohnt, die bereits im 19. Jahrhundert vor dem voranschreitenden russischen Reich und später vor der Sowjetunion flüchteten. Diese Gruppen bilden eine stete Opposition zur turkmenischen Regierung und erheben territoriale Ansprüche gegenüber Turkmenistan. Einige von ihnen arbeiten vermeintlich mit verschiedenen bewaffneten Gruppen in Afghanistan zusammen. Das macht die Stabilität der Grenze zu einer besonders sensiblen Frage für Aschgabat.

Usbekistan, das am 7. und 8 Oktober den turkmenischen Präsidenten Gurbanguli Berdimuhamedow empfing, sieht Turkmenistan als das schwache Glied gegenüber der afghanischen Bedrohung. Mit Blick auf die begrenzten Mittel der turkmenischen Armee fürchtet Taschkent um seine Region Chorezm im Westen des Landes, die im Falle einer Invasion Turkmenistans direkt bedroht wäre.

Die Sicherheitsfrage wird zudem von wirtschaftlichen Interessen dominiert. Verschiedene turkmenische Pipelines durchqueren das usbekische Territorium. Das Verhältnis Usbekistans und Turkmenistans war lange angespannt. Ironischerweise bringt die gemeinsame Angst um die afghanische Grenze sie nun näher. Laut einem Bericht der Novaya Gazeta hat Aschgabat am 8. Oktober Taschkent um militärische Hilfe gebeten.

Die Instabilität Afghanistans bedroht auch die Realisierung des wichtigsten turkmenischen Gasprojekts: Die TAPI (Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Indien)-Pipeline. Mitte September kündigten die Behörden an, der Bau der Pipeline durch lokale Firmen werde im Dezember dieses Jahres beginnen.

Diese von den Vereinigten Staaten und der Weltbank unterstützte Infrastruktur soll Afghanistan über 700km durchqueren, aber die Instabilität der betroffenen Gebiete hat den Bau bisher hinausgezögert. Eine weitere Verzögerung würde die von den niedrigen Öl– und Gaspreisen angeschlagene turkmenische Wirtschaft empfindlich treffen.

Jenseits der teilweise berechtigten Sorgen in Turkmenistan dient die terroristische Bedrohung in Afghanistan auch als Argument für die Beseitigung der legalen Opposition in der Region. Neuestes Beispiel: das Verbot der größten Oppositionspartei in Tadschikistan.

Tadschikistan und das Verbot der islamischen Wiedergeburtspartei

Ein Banner anlässlich des 50. Geburtstags des tadschikischen Präsidenten, Emomali Rahmon. | Bild: Roy Prince

Die Unabhängigkeit Tadschikistans führte in einen bis 1997 andauernden Bürgerkrieg, an dem auch eine islamische Partei beteiligt war. Der Hintergrund des Konflikts war eher regionalistisch als islamistisch, doch seit der amerikanischen Intervention in Afghanistan wird Tadschikistan als ein Risikostaat angesehen, der zu einem Hort für Extremisten werden könnte.

Das tadschikische Regime nutzt diese Sorgen um seine Opponenten zu delegitimieren und schafft so eine Machtkonzentration um den Präsidenten Rahmon, die immer mehr der im benachbarten Usbekistan ähnelt.

Anfang September wurde das Ende der parlamentarischen Opposition mit dem Verbot der größten Oppositionspartei besiegelt: die Partei der islamischen Wiedergeburt (PIWT). Diese war bis dahin die einzige legale islamische Partei der Region und vertrat die Trennung von Staat und Religion. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2013 wurde eine Frau, die Bürgerrechtlerin Ojnihol Bobonasarowa, als gemeinsame Kandidatin der von der PIWT angeführte Opposition vorgeschlagen. Ihre Kandidatur scheiterte jedoch an einer der ausreichenden Zahl der Unterschriften.

Die letzten Parlamentswahlen am 1.März dieses Jahres bescherten der Präsidentenpartei eine absolute Mehrheit, die zwei Oppositionsparteien PIWT und die Kommunistische Partei erhielten keine Mandate. Die PIWT erhielt nur 1,5% der Stimmen. In ihrem Bericht kritisierte die OSZE die Wahl, die „keine freie und informierte Wahl“ erlaubte und bei der keine „ehrliche Stimmzählung» möglich war.

Kurz nach den Wahlen kamen Gerüchte über ein baldiges Verbot der PIWT auf.

Einige Wochen später verließ der Parteichef Muhiddin Kabiri endgültig das Land und Dutzende Parteimitglieder beendeten ihre Mitgliedschaft.

Der PIWT wurde ebenfalls vorgeworfen, an der seltsamen Rebellion des Vize-Verteidigungsministers teilgenommen zu haben, der Mitte September nach einer mehrtägigen Operation von der Armee getötet wurde. Am 29. September erklärte der Generalstaatsanwalt im Hinblick auf diese Beschuldigungen die Partei zu einer terroristischen Organisation.

Das Verbot unterminiert die letzten Überreste des Friedensvertrags von 1997. Dieser sah vor, dass ein Teil der höheren Verwaltungsposten an die islamische Opposition, deren größter Vertreter die PIWT war, gehen sollte. Die Entscheidung des Staatsanwalts wurde nur leicht von den Vereinigten Staaten kritisiert. Neben der demokratischen Agenda haben diese sicherheitspolitische Interessen in der Region.

Der Standpunkt der USA: Stabilisieren um jeden Preis

U.S. Army Truppen in der Provinz Kunar. | Bild: Wikipedia

Am 27. September organisierte das amerikanische Außenministerium im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein Treffen der fünf zentralasiatischen Staaten im neuen Format „C5+1“. Auf der Tagesordnung standen hauptsächlich regionale Sicherheitsfragen. Dieser diplomatische Vorstoß wurde zwischen dem 31. Oktober und dem 3. November durch eine Tour des Außenministers John Kerry durch alle fünf zentralasiatischen Staaten weitergeführt.
Das Engagement der Vereinigten Staaten in der Region lässt sich an der Militärhilfe messen, die den fünf Staaten gegeben wurde und die zwischen 2010 und 2015 verfünffacht wurde. Es geht darum, die Stabilität der Region zu unterstützen, auch wenn dies die Unterstützung von Herrschaftsverhältnissen gegen einen vermeintlich aus Afghanistan drohenden Islamismus bedeutet.

2012 haben mehr als 350 Beamte des tadschikischen internen Sicherheitsdienstes (GKNB) an Amerikanischen Trainingsprogrammen teilgenommen. Zudem wurde die finanzielle Hilfe für die Ausstattung der tadschikischen Polizei erhöht.

Am 6. Oktober fand die Grundsteinlegung der neuen amerikanischen Botschaft in Aschgabat, Turkmenistan, statt. Dies ist ein Zeichen des dauerhaften Engagements der Vereinigten Staaten, die dem Regime ebenfalls Militärtrainer und Ausstattung brachten.

Auch die Zusammenarbeit mit Usbekistan wächst. Im Mai 2014 eröffnete die NATO ein neues Liaison-Büro in Taschkent und im Juli diesen Jahres ein Weiterbildungszentrum für usbekische Offiziere. Die usbekische Armee und vor allem der Dienst für Staatssicherheit (SNB) werden von Analysten als die stärksten der Region gesehen. Der SNB macht jedoch ebenfalls für seine geheimen Gefängnissen und Foltermethoden im Rahmen einer Massenüberwachung im Land Schlagzeilen.

Die Politik der Vereinigten Staaten in den fünf zentralasiatischen Staaten ist ähnlich und zielt darauf ab, die regionale Stabilität nach dem Rückzug ihrer Kräfte aus Afghanistan zu gewährleisten. Sie schont deshalb die Interessen der lokalen Machthaber.

Russland verstärkt seine militärische Präsenz

Somit hat die amerikanische Zentralasienpolitik viel mit der Russlands gemein, das die Krisen in Syrien und Afghanistan zusammenhängend betrachtet. Der russische Eingriff in Syrien ist der erste dieser Art seit dem Ende der Sowjetunion (und dem Eingriff in Afghanistan 1979). Er wurde von Kirgisistan unterstützt und Mitte September beim Treffen der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) in Duschanbe bestätigt.

Am 7. Oktober verstärkte Russland seine militärische Zusammenarbeit mit Afghanistan und erklärte, dass auch die Grenzen seiner Alliierten (vor allem Tadschikistans) mit Afghanistan weiter gestärkt würden.

Nach dem Treffen Wladimir Putins mit dem tadschikischen Präsidenten Emomali Rahmon am 6. Oktober hat Russland neue Helikopter zu seiner größten Militärbasis in Tadschikistan gesandt und plant, die Truppenzahl dort auf 9000 aufzustocken. Dazu soll die MiIlitärhilfe für Tadschikistan auf bis zu 1,2 Milliarden US Dollar erhöht werden.

Seit einem Jahr ist die oft übertriebene Bedrohung eines Einzugs des IS in Afghanistan und Zentralasien ein permanentes Thema in den russischen Medien. Der russische Eingriff in Syrien und die militärische Rückkehr in Zentralasien untermauern die russische Position: bestehende Regimes bilden die beste Garantie gegen die terroristische Bedrohung. Dies eint auch die Herangehensweisen in Syrien und in Zentralasien.

Dabei werden unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Extremismus die Grundrechte in Teilen Zentralasiens weiter verletzt. Die Gräueltaten des IS schockieren die Öffentlichkeit, die sich währenddessen wenig um neue Gesetze, die die Religionsfreiheit in ihrem Land einschränken, kümmert.

Abgesehen vom Verbot der PIWT hat Tadschikistan auch die Kontrolle religiöser Zeremonien verstärkt. In Usbekistan ist während der Gebete und religiösen Feste Minderjährigen der Zutritt zu Moscheen untersagt. Wie Human Rights Watch bemerkt, haben verschiedene Anti-Terrorismus-Gesetze, die in den Ländern Zentralasiens verabschiedet wurden, zum Teil stark die religiösen Freiheiten eingeschränkt.

Die großzügige Unterstützung der NATO und der Vereinigten Staaten in Zentralasien seit 2001 hat die Regimes der Region gestärkt. Auch die russische Unterstützung in Form von wirtschaftlichen Vorteilen unterstreicht die Legitimität lokaler Machthaber. Wladimir Putin ist in der Region sehr beliebt, ihre Präsidenten lassen sich gerne mit ihm fotografieren.

Die internationale Anerkennung ist eine Stütze für die Politik dieser Systeme, die oft Probleme damit haben, die Grundbedürfnisse der Bevölkerungen zu befriedigen. Dies gewährt kurzfristig eine gewisse Stabilität, dürfte sich aber langfristig als problematisch erweisen.

Redaktion Novastan.org. 09.11.2015

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