Wie Bruder und Schwester, wie ein altes Ehepaar, wie zwei Freunde, die sich lange nicht gesehen haben, oder vielleicht gar wie die beiden Dichterkollegen Goethe und Schiller, so könnte man sich die beiden Städte im Osten Kasachstans beinahe vorstellen: Ust-Kamenogorsk und Semipalatinsk.

So stelle ich mir das zumindest in meinen romantischen Fantasien vor, als ich in einem privaten Taxi sitze und auf der etwa 220 Kilometer langen Bundesstraße zwischen den beiden Großstädten bei völlig überhöhter Geschwindigkeit in die Abendsonne rase. Nun gut, das mag alles etwas weit hergeholt sein. Eine gewisse Hassliebe verbindet die beiden Städte allerdings! Spätestens seit dem Jahr 1997, als die Verwaltungsgebiete Semipalatinsk und Ostkasachstan zusammengelegt wurden und die Stadt Semipalatinsk seinen Status als Gebietshauptstadt an Ust-Kamenogorsk verlor.

Diesen Bedeutungsverlust sieht man der Stadt an. Bei der Einfahrt nach Semipalatinsk passiert man zahlreiche riesige, dem Verfall preisgegebene, ehemalige Industrieanlagen. Die Straßen sind in denkbar schlechtem Zustand und der Taxifahrer muss sich bemühen, auch im dichten Feierabendverkehr die endlosen Schlaglöcher im Fahrbahnbelag zu umkurven. Der Fahrer erklärt, seitdem die wichtigen Staatsgelder für die Verwaltungszentren in der Stadtkasse von Semipalatinsk fehlen, kann kaum noch städtische Infrastruktur erneuert, bestenfalls mehr schlecht als recht in Stand gehalten werden.

Den Stadtbewohnern bleibt da lediglich noch ihr Stolz auf die zwischen 1998 und 2001 erbaute sogenannte „Neue Brücke“, eine gigantische Hängebrücke, die die Stadt an beiden Ufern des Flusses Irtysch verbindet und für massive Verkehrsentlastungen auf der alten Irtysch-Brücke sorgt. Doch auch für den Unterhalt dieser Brücke, mit einer Gesamtlänge von 1.086 Metern immerhin die längste Hängebrücke Zentralasiens, fehlt im städtischen Haushalt das Geld und immer wieder gerät die Frage nach der Sicherheit der Brücke in den öffentlichen Diskurs.

Zahlreiche historische Bauten in Semipalatinsk

Vielleicht hat dieser tragische Bedeutungsverlust aber auch sein Gutes für die Stadt. Dass es kaum moderne Neubauten in der Stadt gibt, dürfte so manchem historischen Gebäude die Existenz gerettet haben. Zahlreiche alte Holzhäuser im russischen Stil existieren noch immer im Stadtzentrum und versprühen den Charme der vorrevolutionären Zeit. 17 Moscheen existierten bis zur Oktoberrevolution. Die Zeit bis heute überdauert haben vier von ihnen, darunter die Kathedralmoschee aus dem Jahre 1861 mit ihren charakteristischen zwei Minaretten.

Auch die in grüner Farbe bemalte Steinmoschee ist einen Besuch wert, sie stammt aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist die älteste Moschee der Stadt. Diese beiden Moscheen gehören zu den wichtigsten historischen und kulturellen Bauwerken des Landes. Aber auch die russisch-orthodoxe Kirche hat ihre Spuren hinterlassen. Die Auferstehungs-Kathedrale, die 1896 geweiht wurde, ist auch heute noch das größte christliche Gotteshaus der Stadt. Auch das Nonnenkloster mit der Peter-und-Paul-Kirche wurde1899 errichtet.

Ort der Verbannung

Die Geschichte der Stadt beginnt im frühen 18. Jahrhundert. Die Semipalatner Festung wurde 1718 von dem Heerführer Wassilij Tscheredow auf Befehl von Zar Peter dem Großen gegründet. Wie bei vielen Festungsgründungen Zentralasiens war auch hier der ursprüngliche Zweck der Schutz der südlichen und östlichen Landesteile. Zur Stadt wurde Semipalatinsk mit der Erlangung der Stadtrechte im Jahr 1782. Am 1. Oktober 1854 wurde die Stadt zum Zentrum des gleichnamigen Gebietes Semipalatinsk. In dieser Zeit im 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Schriftsteller und Intellektuelle nach Semipalatinsk verbannt, auf diesem Wege kam auch Fjodor Dostojewski in die Stadt und verbrachte dort einige Jahre in der Verbannung.

In den frühen Morgenstunden des 23. April 1849 wurden Dostojewski sowie 14 weitere Intellektuelle als Anhänger einer revolutionären politischen Gruppe verhaftet und im Folgenden zum Tode verurteilt. Das Todesurteil sollte am 22. Dezember 1849 auf dem Paradeplatz in der Peter-und-Paul-Festung in Sankt Petersburg vollstreckt werden. Bereits in weiße Leichenkittel gekleidet und im Angesicht des nahenden Todes, wurde den Verurteilten ein Erlass des Zaren verlesen. Fjodor Dostojewski sollten alle Vermögenswerte abgesprochen und er für acht Jahre zur Zwangsarbeit in Festungshaft geschickt werden.

Dostojewskis Zeit in Semipalatinsk

Diese Zeit in Festungshaft endete am 15. Februar 1854. Dostojewski zog nach Semipalatinsk und musste sich dort dem 7. Sibirischen Linienbattaillon anschließen. Mit der Zeit konnte Dostojewski einige Privilegien zurückerlangen. So bewohnte er ab 1855 eine Datscha zusammen mit Alexander Wrangel, ab 1856 konnte er wieder literarische Werke niederschreiben und veröffentlichen und heiratete am 6. Februar 1857 Marija Issajewna. Insgesamt 5 Jahre lang, von 1954 bis 1959, lebte Dostojewski in Semipalatinsk, fand dort einflussreiche Freunde und schrieb zahlreiche Werke wie „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ oder „Erniedrigte und Beleidigte“.

Zu seinen guten Freunden aus dieser Zeit zählte auch der kasachische Universalgelehrte und Wissenschaftler Schokan Walichanow. Hiervon zeugt noch bis heute ein Denkmal der beiden direkt neben dem ehemaligen Wohnhaus Dostojewskis im Stadtzentrum. Im angrenzenden Museum kann man sich heute über das eindrucksvolle Leben des Schriftstellers in den Jahren der Verbannung informieren.

Symbolfigur Abai

Ein weiteres Museum informiert über einen anderen berühmten Sohn der Stadt. Der kasachische Nationaldichter Abai Kunanbajew wurde am 29. Juli 1845 in einem Dorf in der Nähe von Semipalatinsk geboren. Er besuchte in seiner Kindheit und Jugend die Koranschule und Moschee in der Stadt, auch diese Gebäude sind heute noch zu besichtigen. Schon in jungen Jahren interessierte sich Abai für die Werke europäischer Schriftsteller wie Puschkin, Lermontow, Goethe oder Lord Byron.

Er war der erste, der deren Texte in die kasachische Sprache übersetzte. Auch die russischen Intellektuellen und Schriftsteller, die in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts aufgrund ihrer liberalen Ansichten aus dem westlichen Teil Russlands nach Semipalatinsk in die Verbannung geschickt wurden, hatten großen Einfluss auf ihn. In den vielen Gesprächen mit ihnen formierten sich die liberalen Ansichten Abais endgültig. Abai Kunanbajew starb am 23. Juni 1904 dort, wo er auch geboren wurde: unweit der Stadt Semipalatinsk.

Abai Kunanbajew ist heute eine Symbolfigur des modernen Kasachstans. Dies wird beim Blick auf Kasachstans Städte sofort deutlich. Zahlreiche Straßen und Gebäude tragen ihm zu Ehren seinen Namen. Dort wo einst Lenin stand, sind heute Denkmäler von Abai zu finden. Seine Werke werden in den Schulen des Landes gelehrt. Und so ist man auch in Semipalatinsk zu Recht stolz auf den weisen Sohn der Stadt. Aber auch andere berühmte Namen finden sich unter den Kindern der Stadt.

Das traurige atomare Erbe

Weniger bekannt ist die Tatsache, dass der ehemalige Profiboxer Wladimir Klitschko am 25. März 1976 in Semipalatinsk geboren wurde. Sein Vater Wladimir Rodionowitsch Klitschko war als Offizier der sowjetischen Luftstreitkräfte zu dieser Zeit in Zentralasien stationiert. Der ältere Bruder von Wladimir Klitschko, Vitalij, ebenfalls ehemaliger Profiboxer und heutiger Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wurde am 19. Juli 1971 in Belowodsk in der Kirgisischen SSR geboren. Heute sind es jedoch die zwei berühmten Dichtersöhne, die das öffentliche Bild der Stadt in hohem Maße bestimmen.

Weniger stolz ist man in Semipalatinsk auf die neuere Geschichte. Weithin bekannt ist die Stadt insbesondere durch das im Jahr 1949 gegründete Atomwaffentestgelände. Man versucht, mit aller Kraft den Mythos von den Krankheit und Tod bringenden Atomwaffen abzustreifen. Am 21. Juni 2007 hat sich die Stadt offiziell in Semey umbenannt. Damit will man symbolisch vom alten Namen, der noch immer mit dem Atomwaffentestgelände in Verbindung gebracht wird, Abstand nehmen. Doch so ganz lässt sich dieses schwere Erbe der Stadt noch immer nicht abstreifen, aber das ist eine andere Geschichte…

Philipp Dippl

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