Am 6. und am 9. August des Jahres 1945 warf das Militär der Vereinigten Staaten von Amerika Atomwaffen über Japan ab und machte damit die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki praktisch dem Erdboden gleich. Dies waren die bis heute einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg. Die Folgen der Atombombenabwürfe waren verheerend, 100.000 Menschen waren sofort tot, viele Hunderttausend mehr starben an den Folgen der atomaren Strahlung auch noch Jahrzehnte später. Die Welt war mit einem Moment ins atomare Zeitalter gebombt, mit völlig unvorhersehbaren Folgen für unsere Zukunft.
Auch die friedliche Nutzung der atomaren Energie birgt bisweilen völlig unabwägbare Risiken in sich. Die Sowjetunion versuchte sich schon früh mit der Energiegewinnung durch Kernkraft. Das Kernkraftwerk AES-1 Obninsk in der Region Kaluga wurde am 26. April 1954 in Betrieb genommen, und somit besaß die Sowjetunion das erste kommerziell genutzte Atomkraftwerk der Welt. Das erste und einzige Atomkraftwerk Kasachstans, der Reaktor BN-350, ging am 16. Juli 1973 erstmals ans Netz, und zwar direkt am Ufer des Kaspischen Meeres in der Stadt Aktau, die bis 1992 als Schewtschenko bekannt war.
Bis zum Untergang der Sowjetunion besaß das sozialistische Riesenreich 20 Atomkraftwerke. Das bekannteste unter ihnen dürfte wohl das Kraftwerk Tschernobyl in der ukrainischen Stadt Prypjat sein, welches durch den atomaren Supergau im Jahre 1986 die Welt in Schock versetzte. Doch seit kurzer Zeit macht ein weiteres ehemals sowjetisches Atomkraftwerk auf beklemmende Weise von sich reden: das Kernkraftwerk Saporischja im ukrainischen Enerhodar. Das größte Atomkraftwerk Europas leidet seit dem Frühjahr 2022 schwer unter dem Beschuss durch russische Truppen, ein Supergau ist noch immer nicht abgewendet und nach Europa kehrt die Angst vor der atomaren Katastrophe zurück.
Kampf der Systeme
Am 16. Juli 1945, um exakt 05:29:45 Uhr Ortszeit, erschütterte eine gewaltige Explosion die sogenannten White Sands Proving Grounds. Hier, in der Wüste New Mexicos, erfolgte soeben der Trinity-Test, die erste jemals erfolgte Kernwaffenexplosion. Es war die Generalprobe für die Abwürfe der Uranbombe „Little Boy“ über Hiroshima, sowie der Plutonium-Implosionsbombe „Fat Man“ über Nagasaki nur wenige Tage darauf. Der Test im Rahmen des streng geheimen Manhattan-Projekts der USA zur Kernwaffenentwicklung wurde als erfolgreich eingestuft und die Waffen wurden für den militärischen Einsatz über Japan freigegeben.
Die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki markierten auch im Fernen Osten der Welt endgültig das Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1945. Doch mit der bedingungslosen Kapitulation des kaiserlichen Japans begann eine neue Ära, es waren die frühen Tage des Kalten Krieges, der die Welt für die nächsten Jahrzehnte in Atem halten sollte. Der Kampf der Systeme, Kapitalismus gegen Sozialismus, wurde auf dem Feld der Technologie ausgetragen.
Fast 500 Atombombentests bei Kurtschatow
Nach der Devise „Abschreckung durch Aufrüstung“ förderte auch die Sowjetunion die Entwicklung der Atomwaffentechnik. Am 29. August 1949 zündete sie ihre erste Kernwaffe RDS-1. Testgebiet war das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk nahe der Stadt Kurtschatow. Die Sowjetunion sollte, den USA ebenbürtig, zur Atommacht werden.
Lawrentij Berija persönlich, Kopf des sowjetischen Atombombenprojektes, wählte dieses, fälschlicherweise als völlig unbewohnt bezeichnete, 18.000 Quadratkilometer große Gebiet im Jahr 1947 aus.
Fortan besaß das streng geheime Gelände den Tarnnamen Semipalatinsk-21, oder wurde schlicht „der Polygon“ genannt. Die Großstadt Semipalatinsk lag nur 150 Kilometer entfernt. Bis zum Jahr 1962 fanden im nördlichen Teil des Geländes 113 Atombombentests oberirdisch oder in der Atmosphäre statt. Ab dem Jahr 1963 fanden 383 Tests unterirdisch und Bohrlöchern und Tunneln im Gebiet Balapan oder in den Degelen-Bergen im südlichen Teil des Testgeländes statt. Zwischen 1949 und 1989 wurden hier somit insgesamt 496 nukleare Bombentests durchgeführt. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion fand der Kalte Krieg endlich sein Ende, die Zeit schien nun reif für den Versuch einer atomwaffenfreien Welt. Am 29. August 1991 wurde das Atomwaffentestgelände stillgelegt.
Die Stadt Kurtschatow war in den Jahren der Sowjetunion eine geschlossene Stadt. Nur befugte Personen durften die Stadt, die oft lediglich als Semipalatinsk-21 oder Moskau-400 bekannt war und auf Landkarten nicht selten schlichtweg als „Konetschnaja“ (Endstation) verzeichnet wurde, damals betreten und sich dort aufhalten. Kurtschatow war einst einer der geheimsten und am meisten abgeschotteten Orte der Sowjetunion. Grund für diese strenge Geheimhaltung und Abriegelung war, dass sich die Verwaltung des Atomwaffentestgeländes in diesem 1947 nur aus diesem Grunde gegründeten Ort befand.
Der Verfall von Kurtschatow
Heute ist dies etwas anders, der Zugang zur Stadt ist heute selbst Ausländern nicht mehr durch etwa strenge Kontrollen oder Straßensperren verwehrt. Und trotzdem verirrt sich auch heute noch kaum eine Seele hierher in die weite Steppe Ostkasachstans. Kurtschatow ist ein trostloses, einsames Städtchen, größtenteils vergessen und dem Verfall preisgegeben. Im Jahr 1948 mit den Stadtrechten verliehen, lebten einst rund 20.000 stolze Mitarbeiter der Atomprogramme in der Stadt, die den Namen von Igor Wassilijewitsch Kurtschatow trägt, dem ersten Leiter des sowjetischen Atomprogramms und „Vater“ der sowjetischen Atombombe.
Ihm zu Ehren befindet sich eine Statue auf dem zentralen Platz der Stadt, doch bereits angrenzende Gebäude sind verfallen und halb zerstört. Von einst stolzen Arbeiterpalästen, Kulturklubs und Verwaltungshäusern im Stil der stalinistischen Zuckerbäckerarchitektur der 1950er Jahre stehen nur noch die Seitenwände. Die sowjetischen Insignien Hammer und Sichel sind hier und da noch schemenhaft im Schatten oder als zerbröckeltes Wandrelief zu erkennen. In den wenigen noch intakten Wohnblocks vor Ort leben heute wieder rund 12.000 Menschen. Sie arbeiten in dem erst 2003 durch ein Dekret des Präsidenten gegründeten Kerntechnologiepark, ein brandneues Zentrum zur Erforschung der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Und trotzdem, eine unheimliche Atmosphäre liegt über dem Ort. Es ist furchtbar still, nur der Wind ist zu hören, der durch die zerbrochenen Glasscheiben der nahen Gebäude bläst. An der nordöstlichen Seite markiert der Fluss Irtysch das Ende des Städtchens. Der Südwesten führt in die offene Steppe. Trotzdem ist man bestens beraten, die Stadtgrenzen nicht in Richtung des offenen Atomtestgeländes zu betreten. Und das nicht nur, weil dies noch immer strengstens verboten ist. Die radioaktive Strahlung durch die jahrzehntelangen Tests ist noch immer sehr hoch.
Das Leid der Menschen in der Region
Jeder, der sich dieser unsichtbaren Gefahr unkontrolliert aussetzt, riskiert ernsthafte Gesundheitsschäden. Dies zeigen aktuelle Fälle, die sich über die gesamte Region erstrecken. Noch im Jahr 1997 wies die Hälfte aller in der Region geborenen Kinder Gesundheitsschäden auf, etliche davon sind körperlich, geistig oder mehrfach behindert. Selbst in der Stadt Semipalatinsk kommt es bis heute zu unzähligen Fehlgeburten. Die Bewohner der Region leiden an vielen Krankheiten, hauptsächlich an Krebs.
Die aufwendigen und teuren wissenschaftliche Nachweise, die in jedem Einzelfall vorgelegt werden müssen, können sich nur die wenigsten leisten. Deshalb werden viele Betroffene nicht als Opfer der Atomtests anerkannt und leben ein Leben unter ärmsten Bedingungen.
Diese düstere Gemengelage im Zusammenhang mit diesem schweren sowjetischen Erbe veranlasste die fünf zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan dazu, am 8. September 2006 den sogenannten Vertrag von Semej zu unterzeichnen. Dieser verbietet das Testen, das Stationieren, den Besitz sowie die Herstellung von Kernwaffen. Zentralasien wurde somit zum atomwaffenfreien Gebiet erklärt.
Bis 1996 wurden die Stollen der Atomtests versiegelt. Am 29. Juli 2000 wurde mit 100 Tonnen TNT der letzte Tunnel auf dem Areal zum Einsturz gebracht und die frühere nukleare Nutzung des Gebietes endgültig beendet. Im Jahr 2012 war die Sicherung aller bekannter Überreste der Atomtests beendet. Bis heute arbeiten zahlreiche Staaten und Regime weltweit an der Herstellung eigener Atomwaffen. Doch Kasachstan hat sich seinem schweren Erbe der Sowjetunion angenommen und sich für einen Alternativweg ohne atomare Waffen entschieden. Kurtschatow und das Atomwaffentestgelände Semipalatinsk-21 steht somit für eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte, aber es mahnt auch zum Umdenken und hilft somit vielleicht ein Stückchen dabei, aus der Welt einen etwas besseren, einen atomwaffenfreien Ort zu schaffen.