Osteuropa und Zentralasien 20 Jahre nach der Transformation: Entwicklung des Integrationspotentials und der wechselseitigen Kooperation – das Thema einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz fand Ende September reges Interesse bei Diplomaten, Wissenschaftlern und Studenten. Zu dem Meinungsaustausch hatten die Kasachische Nationale al-Farabi-Universität und die Friedrich Ebert Stiftung eingeladen. Die Reflexion des Transformationsprozesses sollte neue Impulse für die soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung Kasachstans geben. Stargast Prof. Dr. Eckart Stratenschulte, Leiter der Europäischen Akademie Berlin, kritisierte die Zentralasienpolitik der Europäschen Union (EU) und schockierte die Teilnehmer mit seiner provokanten These, dass das Integrationspotential der EU erschöpft sei.
/Bild: Christine Karmann. ‚Prof. Dr. Eckart Stratenschulte warf der EU Defizite in der Umsetzung ihrer Politik vor.’/
Zwei Wochen bot Prof. Dr. Eckart Stratenschulte, Leiter der Europäischen Akademie Berlin, als Gastdozent an der Fakultät für internationale Beziehungen der Kasachischen Nationalen al-Farabi-Universität Seminare zur Entwicklung der Europäischen Union für Studenten an. Bei der Konferenz zu Thema „Osteuropa und Zentralasien 20 Jahre nach der Transformation: Entwicklung des Integrationspotentials und der wechselseitigen Kooperation“ hatte der deutsche Wissenschaftler („Ich bin kein Diplomat“) seinen großen Auftritt. Mit seiner These, dass das Integrationspotential der EU erschöpft sei, wollte Prof. Dr. Eckart Stratenschulte die Diskussion zuspitzen.
Keine Integrationskonkurrenz zwischen Brüssel und Moskau
Zunächst warf Prof. Dr. Eckart Stratenschulte in einem interessanten Vortrag drei Blicke in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Europäischen Union: „Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwand der Sozialismus als gesellschaftliche Alternative aus Europa und die Landkarte von Europa wurde neu gezeichnet. Der Ost-West-Konflikt fand sein Ende, und die EU übernahm die Rolle als Integrationszentrum für ganz Europa.“ Prof. Dr. Eckart Stratenschulte wies darauf hin, dass die akademische Diskussion über die Integrationskonkurrenz zwischen Brüssel und Moskau nicht existiere und die EU neue Aufgaben und Verantwortungen übernehmen müsse.
Gegenwärtig, so die These des deutschen Wissenschaftlers, sei jedoch das Integrationspotential der EU erschöpft, sowohl nach außen, was die Aufnahme weiterer Mitglieder betreffe, als auch nach innen, was die innere Kohärenz angehe. Prof. Dr. Eckart Stratenschulte verwies darauf, dass die EU vor neuen globalen Herausforderungen stehe, wie z.B. dem Klimawandel, der Energieversorgung, der demographischen Entwicklung und der weltweiten Gefahr des Terrorismus, die die Prosperität und den sozialen Schutz beeinflussen.
Eine wichtige Aufgabe der EU sieht der Wissenschaftler aus Berlin in dem europäischen Dialog mit Russland: „Russland ist bisher nur unzureichend in europäische Kooperationsstrukturen eingebunden. Es gibt keine Lösung europäischer Probleme ohne Russland.“ Da das ursprüngliche Ziel der Friedenssicherung der Mitgliedstaaten erreicht sei, müsse die EU nun definieren, wohin die Reise in Zukunft gehen soll.
Umsetzungsdefizit der EU-Politik
Bei der Suche nach Reisegenossen, müssen die Verbindungen zwischen der EU und Zentralasien intensiviert werden, so Prof. Dr. Eckart Stratenschulte. Er sage dass nicht nur aus Freundlichkeit, weil er nach Kasachstan eingeladen worden sei. „Die Zentralasienpolitik der EU ist defizitär. Es hat viel zu lange gedauert bis die EU Zentralasien entdeckt hat. Die im Jahre 2007 entwickelte Zentralasienstrategie der EU hat ihre ganz großen Erfolge noch vor sich. Es mangelt an der Kohärenz der 27 EU-Staaten.“ Deutschland beispielsweise sei das einzige Land, das in allen fünf zentralasiatischen Ländern Botschaften eröffnet hat.
Auf Nachfrage erklärt Prof. Dr. Eckart Stratenschulte, der als Leiter der Europäischen Akademie Berlin Europas Politik nach Osten untersucht, was er an gegenwärtigen Beziehungen der EU zu Zentralasien kritisiert: „Es existiert kein Konzeptdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit. Die EU ist viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um in Zentralasien eine viel stärkere vermittelnde Position einzunehmen.“
Prof. Dr. Eckart Stratenschulte erklärt die defizitären Felder in der EU-Politik folgendermaßen: „Für manche EU-Staaten wie z.B. die Mittelmeerländer Spanien, Portugal und Italien liegt Zentralasien weit entfernt. Sie haben eigene Interessen daran, gute Beziehungen zu ihren ehemaligen Kolonien oder Ländern in Nordafrika aufzubauen. Zentralasien ist ein wichtiger Partner für die EU, und das sage ich nicht nur, weil es hier so schöne Berge gibt.“
Für den deutschen Professor ist Europa kein abgeschnittener Kontinent mit einer großen Grenze im Osten. Im Gegenteil, Europa und Asien gehen ineinander über und sollten deswegen gemeinsam an Problemen arbeiten, was z.B. die Energieversorgung, die Migration und die Bekämpfung des Drogenhandels betreffe.
Kooperationsraum der Prosperität
Um die Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien zu intensivieren, schlägt Prof. Dr. Eckart Stratenschulte folgende Lösungsansätze vor: „Wir sollten stärker von Europa sprechen und denken. Wir verlieren zu viel Zeit mit der Frage, wo Europa endet. Geographisch gesehen ist Europa die westliche Halbinsel von Asien. Die Amerikaner sehen viel stärker den Zusammenhang zwischen den beiden Kontinenten und sprechen deshalb von Eurasien.“
Die engere Zusammenarbeit zwischen der EU und Zentralasien sei keine Konkurrenz für Russland, im Gegenteil, wichtige Aufgaben könnten nur in Kooperation mit Russland gelöst werden. Von einem Kooperationsraum der Prosperität würden Russland, die EU und Zentralasien profitieren.
„Um Russland stärker in Europa einzubinden, spielt der OSZE-Vorsitz Kasachstans im nächsten Jahr eine wichtige Rolle. Deshalb kann man sagen, dass der Kasachstan-Vorsitz der OSZE einer der bedeutsamsten in den letzten 15 Jahren sein wird“, sagt Prof. Dr. Eckart Stratenschulte und betont damit abschließend die wichtige Rolle Kasachstans in der Zentralasienpolitik der EU.
Von Christine Karmann
16/10/09