Seit vielen Jahren setzt sich Dietmar Schulmeister auf der politischen, ehrenamtlichen und kulturellen Ebene für die Interessen und Belange der Deutschen aus Russland ein. Er ist Landesvorsitzender der LmDR Nordrhein-Westfalen und Initiator der erfolgreichen Veranstaltungsreihe „Russlanddeutsche Kulturtage NRW“.
Geboren wurde Dietmar Schulmeister am 18. Januar 1991 in Lipezk am Woronesch. Als Neunjähriger kam er mit seiner Familie nach Deutschland. Derzeit ist er im Bereich Medien und Kommunikation sowie als freier Moderator und Trainer selbstständig tätig. In einem Interview mit der DAZ sprach Dietmar Schulmeister über seine Anfänge in Deutschland, über die alte Heimat und über die Besonderheiten der russlanddeutschen Community.
Herr Schulmeister, Sie kamen im Jahr 2000 nach Deutschland. Wie haben Sie die Umsiedlung als Kind empfunden?
Es war eine sehr große Umstellung. Doch meine Eltern und Großeltern haben eine unglaubliche Leistung vollbracht und mir eine Möglichkeit gegeben, in einem freien Land zu leben. Wir hatten ursprünglich nicht geplant, nach Deutschland zu gehen. Meine Urgroßmutter, Amalia, hatte das damals entschieden. Sie ist 1998 in einem zarten Alter von 82 Jahren als Erste nach Deutschland gezogen. Dann bemühte sie sich darum, dass wir alle nachkommen konnten. Sie war wirklich eine sehr taffe Frau, geprägt durch viele Ereignisse in ihrem Leben. Ihr Mann ging als Freiwilliger zur Roten Armee, um seine Familie vor Repressionen zu schützen, und nach zwei Jahren Dienst war er als Offizier plötzlich verschollen. Meine Urgroßmutter hatte die Zwangsarbeit überlebt und viele Hürden auf ihrem Schicksalsweg überwunden. Ihr ganzes Leben bestand nur aus Zufällen, so wie bei mir auch. Ich glaube, das ganze Leben ist ein Zufall. Alle Begegnungen, alle Menschen, die wir treffen, und alles, was sich daraus entwickelt und entsteht: Anfangs sind das alles nur Zufälle, und es liegt an uns, wie wir das meistern und was wir daraus machen. Und meine Urgroßmutter war eine Meisterin des Zufalls.
Als ich nach Deutschland kam, half sie mir dabei, Deutsch zu lernen. Davor konnte ich gar kein Deutsch. Sie sprach mit mir in einem wolgadeutschen Dialekt, unterstützte mich bei den Hausaufgaben, und dank ihr habe ich die Sprache gelernt.
Es ist nicht schwierig, sich zu integrieren oder die Sprache zu erlernen, wenn man das richtige Umfeld dazu hat. Bei mir hat es mit der Sprache etwas gedauert, weil ich wohl noch unter dem Verlust der russischen Heimat und der gewohnten Umgebung litt.
Sie haben das Format „Russlanddeutsche Kulturtage NRW“ ins Leben gerufen und im Jahr 2020 die Veranstaltungsreihe mit hochkarätigen Gästen wie Gusel Jachina, Eleonora Hummel, Dr. Annelore Engel-Braunschmidt oder Dr. Carsten Gansel erfolgreich durchgeführt. Können Sie uns mehr über die Idee für das Veranstaltungsformat erzählen, und dürfen wir uns im Jahr 2021 auf eine Fortsetzung der Russlanddeutschen Kulturtage freuen?
Die Russlanddeutschen Kulturtage bilden die erste zusammenhängende Reihe an vielfältigen kulturellen Veranstaltungen, die sich reflexiv mit der Geschichte und kulturellen Traditionen der Deutschen aus Russland auseinandersetzen und dabei vor allem die ereignisreiche Gegenwart nicht außen vorlassen. Die Beiträge verstehen sich als Brückenbauer und Dialogangebot in die nordrhein-westfälische Gesellschaft, aber auch als Erkenntnisreise für unsere Landsleute. Erst durch die Corona-Pandemie und die veränderten Online-Angebote haben wir verstanden, dass wir auch viele Interessierte über Nordrhein-Westfalen und Deutschland hinaus erreichen können. Einige Gäste aus Kasachstan haben keine einzige unserer Veranstaltungen verpasst. Vor allem die Veranstaltungen mit Gusel Jachina, Eleonora Hummel, Melitta Roth und Professor Gansel haben hier unsere Teilnehmerzahlen übertroffen.
Allgemein werden die Veranstaltungsformate fortlaufend angepasst und meistens von einer Saison zur anderen erweitert – wir sind ja auch hier nicht alleine, sondern arbeiten Hand in Hand mit der „Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus. Deutsch-osteuropäisches Forum“ zusammen. Im letzten Jahr haben wir besonders Prosa in den Fokus gebracht. Dieses Jahr planen wir mit etwas mehr musikalischen Darbietungen sowie Lyrik und Ausstellungen. Aber auch eine kleine Premiere wird dabei sein. Doch darüber werde ich noch schweigen. So viel kann ich sagen: Unser diesjähriger Partner ist der Literaturkreis der Deutschen aus Russland e.V. Übrigens kann sich jeder mit einem Beitrag im Rahmen der Kulturtage bewerben.
Um den Begriff „Russlanddeutsche“ oder „Deutsche aus Russland“ als Bezeichnung für alle Spätaussiedler, die aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion kommen, gibt es immer wieder Diskussionen. Ist es überhaupt möglich, uns alle mit einem einzigen Begriff zu erfassen?
Wir sind eine in sich so vielfältige und vielseitige Gruppe. Was uns verbindet, ist die gemeinsame Geschichte, die ihren traurigen Ursprung in der Deportation von 1941 oder den Deportationen davor hat, wie es zum Beispiel bereits in den Dreißiger Jahren bei den Wolhyniendeutschen der Fall war. Dieses bittere Kapitel teilen wir alle miteinander.
Um zum Begriff „Russlanddeutsche“ zurückzukehren: Er ist neben dem offiziellen Begriff „Deutsche aus Russland“ entstanden. Doch nicht jeder bezeichnet sich als Russlanddeutscher oder nimmt sich als solcher wahr. Wir könnten unzählige Bezeichnungen finden und erfinden, doch es ist schwierig, uns alle mit einem einzigen Begriff zu erfassen, der alle glücklich machen und unsere Vielfalt widerspiegeln würde. Vermutlich wird es noch Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern, bis dieser eine Begriff gefunden werden kann.
Was wir unbedingt machen müssen, ist, diese Begriffe mit positiven Eigenschaften zu besetzen und mit Geschichte zu füllen. Wir müssen mehr denn je zukunftsorientiert arbeiten: neue Prioritäten setzen, bei dem ein oder anderen Thema Kompromisse eingehen und versuchen, den Generationenkonflikt zu lösen. Die Begriffe „Russlanddeutsche“ oder „Deutsche aus Russland“ decken heute nicht mehr alles ab. Sie zeigen nicht diese Vielfalt, die wir in uns als Community tragen.
Viele junge Leute definieren sich zwar nicht als Russlanddeutsche, aber sie verbinden sehr wohl etwas mit diesem Begriff. Zum Beispiel über die Küche, über die Sprache oder über bestimmte Traditionen, die sie an ihre Kindheit oder Jugend erinnern. Viele versuchen, sich zu assimilieren und alles abzuwerfen, doch früher oder später werden sie erkennen, wie wichtig diese Einzigartigkeit in der pluralistischen Gesellschaft ist.
Sollten wir also zu dieser Einzigartigkeit offen stehen und diese ausleben?
Nicht nur wir, Deutsche aus Russland, Kasachstan, Ukraine – oder der ehemaligen Sowjetunion insgesamt, sind einzigartig. Alle deutschen Minderheiten, egal woher sie kamen, sind einzigartig. Weil sie alle etwas Besonderes aus ihrem Herkunftsland mitgebracht haben. Jede einzelne Community, die in unserem Land lebt, ist einzigartig. Wozu diese Besonderheiten verstecken oder sich für sie schämen? Es geht doch darum, das Vertraute und das Schöne an seiner Kultur, Sprache und Identität ausleben zu können. Zu zeigen, wer man ist. Damit machen wir unsere gesamte Gesellschaft reicher: an Kultur, an Literatur, an Sprachen – an allem. Denn das ist genau das, was uns als Gesellschaft ausmacht.
Zum Thema „Was uns verbindet“ nennt Herr Schulmeister ausgerechnet das nicht, was uns tatsächlich verbindet und einen Schlüssel zu einem riesigen Kulturschatz darstellt: Die russische Sprache, welche schon Kultur an sich ist.
Dass Dietmar von einem Generationenkonflikt spricht, mag vielleicht fürs Vereinsinterne gelte, doch in der Breite der russlanddeutschen Community ist es sicherlich kein nennenswerte Problem.
Es ist sehr erfreulich, dass der stellvertretende Bundesvorsitzende des Vereins die Einzigartigkeit betont und die Leute dazu ermutigt, ihre kulturelle Besonderheiten als etwas Positives zu leben.
Danke Dietmar für dein aktives Wirken! – Auch wenn einige deiner Einstellungen nicht die Interessen der Deutschen aus Russland darstellen.