Gegen alle Widerstände behauptet sich in Almaty seit Jahren Kasachstans einziger Waldorfkindergarten. Auch Kinder deutscher Eltern, die in der Stadt arbeiten, besuchen die anthroposophische Kinderstätte. Doch leidet die Initiative unter dauernder Geldnot.
Am Fuße des Tianschan-Gebirges, dort, wo die Chan-Tengri-Straße immer weiter in die Berge hinaufführt, tollen zwei Kinder mit ihrer Erzieherin durch einen schattigen, dicht bewachsenen Obstgarten. Den Wasserschlauch in der einen, einen Apfel in der anderen Hand, gießen sie mit großer Sorgfalt die Apfelbäume, die unter einer immer noch prallen Septembersonne Kühle spenden. Hier, oberhalb von Almaty, wo man fern des Smogs und Großstadtlärms wieder atmen kann, befindet sich Kasachstans einziger Waldorfkindergarten.
Selbstentfaltung durch freies Spiel
Wahrscheinlich hatte Rudolf Steiner, der Begründer der anthroposophischen Waldorfpädagogik, nicht im Traum daran gedacht, dass seine Prinzipien eines Tages selbst im fernen Kasachstan angewandt werden. Als 1919 in Stuttgart die erste Waldorfschule gegründet wurde, wollte Emil Molts, Direktor der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, eine Schule für die Kinder seiner Arbeiter errichten. Er beauftragte Rudolf Steiner damit, die Grundlagen des Unterrichts zu entwerfen. Dieser hatte zuvor mit vielen Vorträgen und Publikationen zu seinem Konzept einer anthroposophischen Pädagogik auf sich aufmerksam gemacht. Sieben Jahre später sollte dann auch der erste Waldorfkindergarten an die Schule angegliedert werden. Die Wenigsten wissen von diesem Ursprung, doch tragen die weltweit etwa dreitausend Schulen und Kindergärten den Namen der Zigarettenfabrik noch heute.
Rauchen werden in Almaty allerdings höchstens die Räder des Dreirads, mit dem die Kinder über den Hof brausen. Gleich neben dem Garten bauen sie im Sandkasten Burgen oder essen lustvoll die saftigen, grünen Äpfel, die von den Bäumen fallen und überall herumliegen. Unter den Augen der Erzieherinnen, die sich zurückhalten und die Kinder gewähren lassen, spielen sie mit allem, was sich gerade findet. Denn dies ist einer der Grundpfeiler von Steiners Waldorfpädagogik: Durch freies Spiel die Heranwachsenden zu sich selbst finden lassen.
„Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass wir hier nichts tun, weil wir die Kinder sich selbst überlassen“, erzählt Madina Larina, eine der Erzieherinnen. „Aber das stimmt nicht. Wir wollen ihnen die Freiheit zugestehen, sich selbständig zu entfalten.“ Die 25-jährige, die zuvor an der Al Farabi-Universität Almaty Russische Literatur studierte, arbeitet seit zwei Jahren im Waldorfkindergarten. „Mir gefällt, dass hier nicht Leistung gefordert, sondern musische Fähigkeiten gefördert werden. Es wird außerdem viel mit den Händen gearbeitet.“ Auch bei der Zubereitung des Mittagessens helfen Kinderhände. Mal werden Brötchen gebacken, ein anderes Mal gemeinsam Salat gemacht. Ansonsten bekocht eine Köchin aus Usbekistan die Heranwachsenden jeden Tag mit vegetarischer Vollwertskost und Kompott aus dem eigenen Obstgarten.
Alternative zum Leistungsdrill
Der für kasachische Kindergärten übliche Leistungsanspruch ist der Hauptgrund, warum Eltern sich entscheiden, ihre Kinder auf einen Waldorfkindergarten zu schicken. Bereits im zarten Kindergartenalter wird dort mit aller Strenge angefangen, den Kindern Lesen und Rechnen beizubringen. Ein Vater, der sein Kind abends abholt, berichtet: „Ich habe selbst sehr schlechte Erfahrungen zu meiner Kindergartenzeit gemacht. Ich möchte nicht, dass mein Kind das auch durchleidet.“ Schenja betont ebenfalls, dass Eltern bewusst entscheiden, ihre Kinder hierher zu bringen. Sie schätzt, dass sich von ihnen etwa die Hälfte auch tatsächlich für Waldorfpädagogik interessiert. Die andere hat auf der Suche nach einer Alternative zum Leistungssystem zu ihnen gefunden. Denn den Kindern werden hier keinesfalls starre Waldorf-Antroposophie oder esoterische Weltanschauungen aufgestülpt. Stattdessen wird der Kindergartenalltag an die hiesige Kultur angepasst, zum Beispiel durch klassische russische Kinderlieder anstelle von Übersetzungen aus dem Deutschen. Auch Ausflüge in die Berge finden regelmäßig statt.
Hauptmotiv aller Beteiligten bleibt jedoch die Abkehr vom frühkindlichen Leistungszwang: „Durch den Leistungsdrill an kasachischen Schulen und Kindergärten findet eine Überforderung statt, die biologische und emotionale Prozesse verzögern kann“, warnt Schenja Filatowa. Die 34-Jährige ist zusammen mit einer anderen Erzieherin am längsten von allen im Haus. Seit 2004, als der Kindergarten gegründet wurde, ist sie mit Unterbrechungen dabei. Davor war sie als freie Künstlerin aktiv und hat unter anderem in Almatys bekannter Galerie „Tengri Umai“ gearbeitet.
Anlaufstelle für deutsche Eltern
Während die Kinder sich draußen vergnügen, räumen drinnen zwei Erzieherinnen heimlich den Spielraum um. Morgens wurde hier noch zusammen im Kreis getanzt und gesungen, jetzt wird ein improvisierter Thron für das Geburtstagskind errichtet. Die kleine Thea wird später als Geburtstagsengel darauf sitzen und aufgeregt ihrer dreijährigen Lebensgeschichte lauschen, die Schenja vor versammelter Gruppe vorträgt. Auch die Eltern sind anwesend, mit Kronen auf dem Kopf sitzen sie unterhalb von Thea und machen einen glücklichen Eindruck. Thea auch, als sie zu ihren Eltern hinuntersteigt und ihr Geburtstagsgeschenk erhält.
Dass Eltern anwesend sind, ist nichts Ungewöhnliches an der Chan-Tengri-Straße. „Die Eltern sind hier sehr aktiv. Sie bringen Essen vorbei oder kommen zu den Ausflügen mit. Denn die Kinder empfinden den Kindergarten eher wie ein Zuhause, wenn die Eltern auch da sind“, erklärt Schenja. Auch zwei deutsche Mütter sind zurzeit anwesend. Sie helfen ihren Kindern dabei, sich einzugewöhnen oder arbeiten aktiv mit.
Tatsächlich ist der Waldorfkindergarten oft die erste Anlaufstelle für Eltern aus Europa und Deutschland, die des Berufs wegen in Almaty gelandet sind. Wie die kasachischen Eltern wollen auch sie ihre Kinder nicht mit verfrühtem Leistungsdenken oder der für die ehemalige Sowjetunion typischen Strenge überfordern. „In Europa gibt es bereits eine Gegenbewegung zu diesem Trend, hier fängt es gerade erst an“, bemerkt Madina. Deswegen gebe es bisher nur wenige Alternativen, selbst im Montessori-Kindergarten, den es hier auch gibt, wird das Leistungsprinzip hochgehalten: „Montessori ist in Kasachstan bekannter als Waldorfpädagogik. Aber nur, weil Vielen wichtig ist, dass ihre Kinder mit zwei Jahren lesen und schreiben können“, berichtet sie.
Großer Einsatz, kleine Bezahlung
Die Frauen, die hier arbeiten, tun dies meist aus idealistischen Motiven. Sie haben keine offizielle Ausbildung zur Erzieherin hinter sich und können von der Arbeit kaum leben. Denn da der Kindergarten vom Staat nicht anerkannt wird, bekommt er keinerlei finanzielle Unterstützung. Und die Elternbeiträge sind vor allem dazu da, die monatlichen Fixkosten zu decken. Auch der deutsche Waldorfverein möchte erst mit finanziellen Mitteln helfen, wenn die Kinderanzahl ein konstantes Niveau erreicht und die Initiative sicherer auf den Beinen steht.
Einen unprofessionellen Eindruck macht die Einrichtung deswegen aber nicht. Die Erzieherinnen legen Wert darauf, sich so oft wie möglich fortzubilden. Der deutsche Waldorfpädagoge Wolfgang Auer etwa besucht den Kindergarten regelmäßig, um die Frauen zu beraten. Im kirgisischen Bischkek, unweit von Almaty, existiert zudem ein Fortbildungszentrum. Dort leitet Auer mehrmals im Jahr pädagogische Seminare. Die Kosten hierfür müssen die Erzieherinnen allerdings selbst tragen. Erst seit letztem Jahr legen auch die Eltern Geld zusammen, um für die Reise und den Aufenthalt in Bischkek etwas beizusteuern.
Die Kindergärtnerinnen hoffen deswegen, dass ihre Idee sich herumspricht und die Zahl der Anmeldungen wächst, sodass auch in Zukunft Mittel gefunden werden, um den Ort am Leben zu halten. Denn Alternativen zum Frühförderungswahn gibt es in Kasachstan wenige.
Um allerdings in einer Leistungsgesellschaft bestehen zu können, benötigt ein junger Mensch mehr als nur intellektuelle Fähigkeiten. Vor allem auch inneres, emotionales Gleichgewicht ist wichtig, um den hohen Anforderungen begegnen zu können. Der Grundstein hierfür kann zum Beispiel in Obstgärten gelegt werden. Etwa beim Gießen der Apfelbäume.