Es ist schon weit nach 23.00 Uhr, eine alte Straßenlaterne wirft schwaches, rötlich schimmerndes Licht in die Nacht. Über der Türe hängt eine blinkende Leuchtreklame mit dem Wort „Produkty“, die Fenster sind mit ausgeblichenen Werbeplakaten für Limonade, Eistee oder Bier verklebt.

Unten an der Treppe stecken zwei windige Typen über einem Mülleimer die Köpfe zusammen, es riecht nach Zigaretten. Drinnen, in dem kleinen Geschäft, erleuchten einige schwache Glühbirnen, die an Kabeln von der Decke hängen, den dicht zugepackten Raum. Auch das grelle Neonlicht von zwei surrenden Getränkekühlschränken fällt von der Seite in den Raum. Auf den ersten Blick ist kaum auszumachen, mit was dieses kleine Lädelchen eigentlich so vollgestellt ist, ein wildes Gewusel aus Farben und Formen fällt ins Auge.

Zunächst glaube ich, alleine in dem kleinen Geschäft zu sein. Erst als sich all diese Farben in Nudelpackungen, Sonnenblumenöl, Pralinenschachteln, Reissäcken, frischen Brotfladen und einer schier endlosen Reihe aus Zigarettenpackungen auflösen, entde-cke ich die junge Frau, die hinter ihrem zugestellten Tresen regungslos auf ihr Handy starrt, und erschrecke kurz.

Nur eine kleine Lücke zwischen dem Kaugummiständer und einem Regal mit Schokoriegeln gibt den Blick auf die Verkäuferin frei. Im gleichen Moment huscht völlig lautlos ein weiterer böse dreinblickender Typ in schwarzer Juppe aus dem Nebenzimmer hinter mir vorbei an die Theke, in der Hand eine Flasche Wodka und eine Dose billiges Bier. Er nuschelt irgendetwas auf Kasachisch durch die kleine Lücke hinter die Theke und zwei Packungen Zigaretten werden von dort nach vorne gereicht.

Und schon ist die grimmige Gestalt in die Dunkelheit verschwunden. Ich lege einen Laib Weißbrot auf den Tresen und bestelle gekonnt noch eine Cervelatwurst, drücke der stummen Dame ein paar Tenge in die Hand und verschwinde ebenso still in die dunkle Nacht.

Nun, es ist nicht so, als gäbe es solche kleinen Verkaufsbuden, Tante-Emma-Läden und Nachtgeschäfte nicht überall auf der ganzen Welt. In Deutschland gibt es den Späti, die Trinkhalle oder einfach die Bude. Das Prinzip ist dasselbe. Doch scheint es mir, als hätten diese Geschäfte insbesondere in den ehemaligen Sowjetrepubliken doch ihren gemeinsamen, ganz eigenen Reiz.

In praktisch jedem größeren Plattenbau findet sich solch ein kleines Geschäft im Erdgeschoss, oft gibt es sogar mehrere „Produkty“ direkt nebeneinander. Und nicht selten tragen auch diese Läden die klangvollen Namen ihrer Besitzerinnen: Dinara, Svetlana, Aigul, ganz so wie die zahllosen Schönheitssalons gleich in der Nähe.

Die 24-Stunden-Wirtschaft, die nach Zusammenbruch der Sowjetunion und mit Öffnung des Marktes für den ungebändigten Turbokapitalismus entstanden ist, ist knallhart und treibt nicht selten höchst sonderbare Blüten. Nicht nur Kneipen, Cafés oder Restaurants arbeiten rund um die Uhr, auch Zahnärzte, Anwälte, Apotheken und Blumenläden tun dies. Einen Zahnarzt oder Anwalt habe ich bis jetzt glücklicherweise noch nicht in tiefschlafender Nacht benötigt. Auch ist es mir bisher zum Glück noch nicht widerfahren, mich nachts um halb vier mit dem allergrößten Blumenstrauß bei meiner Frau für diese oder jene Dummheit entschuldigen zu müssen.

Aber ich vermute, dass genau aus diesem Grunde die zahlreichen Blumenpavillons zu jeder Tag- und Nachtzeit ihren Service anbieten. Angeblich gelten ja die Männer hierzulande als besonders temperamentvoll und ebenso trink- wie streitlustig. Doch auch die Damen sind für ihre aufbrausende Mentalität bekannt. Der fürchterliche Krach und die anschließende Entschuldigung zu später Nacht mit mindestens 101 roten Rosen sind also vorprogrammiert und ein garantiertes Geschäft.

Ich erfreue mich aber eher an den praktischen Seiten der kleinen Lädchen. Ich kann nicht nur eben mal schnell in Hausschlappen nach unten, dies und das besorgen. Außerdem werden die ansonsten sehr strengen Alkoholverkaufsgesetze hier großzügig ausgelegt und man bekommt auch noch spät in der Nacht eine Flasche Wodka, wenn sich die Küchengespräche mal wieder lange hinziehen.

Philipp Dippl

Teilen mit: