Ich bin verstört und weiß nicht, wie ich mich fühlen und verhalten soll. Bis eben war ich noch ganz in der Stimmung geschäftigen Treibens. Nachdem ich das Wochenende komplett verlümmelt habe, sitze ich seit früh in der Früh mit Tatendrang und hochgekrempelten Ärmeln am Schreibtisch. Der Adrenalinspiegel stimmt, die Arbeit fluppt. Allein, es ist schon den ganzen Vormittag niemand erreichbar, nanu?

Entweder sind alle so eifrig wie ich und hocken in Teambesprechungen. Erscheint mir logisch, schließlich fallen heut Wochenbeginn und Monatsanfang aufeinander. Oder es wurde am Wochenende freudig gefeiert, vielleicht wurden in Anbetracht des in Riesenschritten anrückenden Winters schnell noch mal ausgiebig die Biergärten aufgesucht und Grillfeste veranstaltet. Ich stelle mir schlafmützige Gestalten vor, die sich verkatert an ihrem Becher Kaffee festklammern und ihr Telefon auf stumm geschaltet haben. Die Vorstellung gefällt mir, da ich sonst wegen meiner Morgenmuffelei immer allem und allen hinterherhänge, aber heute ausnahmsweise als früher Vogel schon piepeifrig hier rumflattere und flöte.

Als ich gegen Mittag zum Bäcker gehe, stutze ich erneut. Kein Verkehr! Auch keine Fußgänger. Wie ausgestorben. Unheimlich. Eine gespenstische Stille wie vor einer Naturkatastrophe, Sonnenfinsternis oder einem Meteoriteneinschlag. Ob heute Sonntag ist und ich den gestrigen Samstag versehentlich als Sonntag verbracht habe? Oder stecke ich jetzt gerade im Traum oder in einem Zeitloch? Oder gab es einen filmreifen Zeitsprung? Oder wurde ganz irdisch-normal die Uhr umgestellt? Leise und verstohlen frage ich die Bäckereifachverkäuferin, was heute für ein Tag sei. „Montag.“ Aha, und was noch? „Der 3. Oktober.“ Ach so, und was noch? „Feiertag!“ Ach ja?! „Ja! Tag der Deutschen Einheit.“ Oh, das habe ich vollkommen verschwitzt. Ich bin sichtlich verwirrt. „Ich helfe Ihnen auch gern über die Straße.“ bietet mir die Bäckereifachverkäuferin an. Tatsächlich könnte ich jetzt einen Zivi gebrauchen, der mir dabei hilft, den restlichen Tag zu strukturieren.

Bedeppert und bewegungslos sitze ich am Schreibtisch. Den Arbeitsfluss nutzen und den Tag verbringen, als wüsste ich nicht, dass Feiertag ist? Oder ihn ordnungsgemäß als Feiertag begehen? Hätte ich gewusst, dass Feiertag ist, wäre ich ganz anders aufgestanden. Später. Langsamer. Mit Kaffee im Pyjama in der Sonne auf der Dachterrasse. Mit einem gemütlichen ausgiebigen Frühstück. Vielleicht mit einer Verabredung mit Freunden zu einem feiertäglichen Waldspaziergang. Ich hätte ein deftiges Fleischgericht vorbereitet. Dazu ein leckerer Wein. Und jetzt? Ist nur doofes Gemüse im Haus. Und alle anderen sind bestimmt schon ihre Ausflüge angetreten. Trotzdem. Ich entschließe mich, den anderen in den unverhofften Feiertag zu folgen. Aber für mich ist es nicht nur ein Feiertag, sondern ein besonderer, ein geschenkter Tag, ein 366. Tag im Jahr. Da mir nichts ganz besonders Tolles für diesen (halben) Tag einfällt, entschließe ich mich, etwas ganz besonders Sinnloses zu tun, was ich mir an einem sonnigen Feiertag sonst niemals erlauben würde: den ganzen Tag Winnetou-Filme gucken, au ja! Mein Arbeitseifer ist mit einem Schlag verschwunden, ich sinke tief, ganz tief in mein Sofa ein, aus dem ich mich heute ganz sicher nicht mehr erheben werde.

Julia Siebert

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