Ida Bender, 1922 geborene Hollmann, arbeitete von 1966 bis 1973 in der Redaktion der Freundschaft und zog danach mit ihrer Familie an die Wolga. Herold Belger rezensierte ihr Buch 2011 in der DAZ. Seit 1991 lebt sie in Hamburg, wo sie wissenschaftlich und schriftstellerisch ebenso sehr aktiv war. Bender verstarb im Jahr 2012 aber ihre Beiträge in Zeitungen sowie ihre Veröffentlichungen in Sammelbänden und in der Literatur leben weiter. In ihrem Buch „Schön ist die Jugend… bei frohen Zeiten“ („Прекрасна юности пора, прекрасна … в добры времена“) schrieb sie die Odyssee mehrerer Generationen Russlanddeutscher nieder. Mit der Erlaubnis ihres Sohnes Rudolf Bender veröffentlicht die DAZ einen Ausschnitt des Buchs.

 

Im Mai 1965 wurde Herr Vitalij Bulygin, Ingenieur der Elektromontageverwaltung Rudny, in die neu gegründete Elektromontageverwaltung Zelinograd als Chefingenieur überführt. Er bot meinem Ehemann an, als Arbeitsleiter in den Elektromontagebetrieb zu kommen. Dieses Angebot gefiel uns. In Rudny (Gebiet Kustanai, Kasachstan) gab es keine Fachschulen für die weitere Ausbildung unserer zwei Töchter, in der Gebietsstadt Zelinograd gab es hingegen mehrere.
Im Sommer siedelten wir schließlich endgültig über. Ich war einige Wochen mit der Einrichtung in der neuen Wohnung und den drei Kindern in den Lehranstalten beschäftigt. Aus diesem Grund hatte ich mir noch keine Arbeitsstelle gesucht. Da erfuhr ich, dass in Zelinograd eine deutschsprachige Tageszeitung gegründet wird. Ich wollte mein Glück versuchen, denn ich hatte bereits sieben Jahre lang als ehrenamtliche Korrespondentin der Zeitung „Neues Leben“ in Moskau Erfahrungen gesammelt. So suchte ich eines schönen Morgens die Redaktion der werdenden Zeitung in einem der drei mehrgeschossigen Gebäude der medizinischen Hochschule in der Mir-Straße auf. Dort hatte die Redaktion drei Zimmer im vierten Stockwerk gemietet.
Ida Bender, 2010. | Foto: FamilienarchivAn einer Tür war ein schlichtes von Hand geschriebenes Schild in deutscher Sprache angebracht. Im kaum vier mal fünf Meter großen Zimmer saßen zwei Frauen an einem Tisch. Die ältere tippte flott auf einer Schreibmaschine und die jüngere ordnete Papiere. Links vom Eingang am genau so einfachen Tisch drei ältere Herren im Gespräch miteinander. Auf Deutsch! Ich grüßte und stellte mich vor: Ida Bender. Ich hoffe mit meinen Deutschkenntnissen hier Arbeit zu bekommen. Der mit dem ergrauten Krauskopf stellte sich als Karl Welz vor und fragte sofort: „Sind Sie vielleicht die Ida Bender, deren Beiträge oft im „Neuen Leben“ gedruckt werden?“ Ich bejahte. Ohne weitere Fragen hieß er mich Platz nehmen und sagte: „Warten Sie ein paar Minuten, ich werde Sie beim Chef anmelden“. Den Namen Karl Welz kannte ich bereits aus einigen Veröffentlichungen in der Zeitung „Neues Leben“. Nach einigen Minuten kam er zurück und sagte „Der Chef möchte Sie sprechen.“
Später erzählte mir Maria Born – eine der zwei Bürofrauen – einmal, dass Herr Welz zu den anderen Anwesenden gesagt hatte: „Diese Frau müssen wir nehmen, sie hat immer gute Beiträge zu Erziehungsthemen im „Neuen Leben“.
Mein Gespräch mit dem Chefredakteur war kurz, denn auf alle seine Fragen über Wohnort, Bildung, Familie und Beschäftigung antwortete ich in fließendem Deutsch. Da mein Sohn erst acht Jahre alt war, hatte ich den Wunsch geäußert, nicht als Korrespondentin, was mit vielen Dienstreisen verbunden ist, sondern im Übersetzungsbüro zu arbeiten. So wurde ich ab dem 20. Oktober 1965 Literarische Mitarbeiterin der deutschsprachigen Republikzeitung „Freundschaft“.
Ein etwa fünf mal sechs Meter großes Zimmer mit vier bis fünf einfachen Tischen und Stühlen wurde der Redaktion zur Verfügung gestellt. In den nächsten Tagen trafen mehrere, meist junge Herren ein. Die Journalisten Leo Weidmann, Johann Sartison, Adam Wotschel, die an russischen Zeitungen gearbeitet hatten, der Lehrer Hugo Wormsbecherr, alles junge Deutsche, die zwar leidlich deutsch sprechen konnten, aber nur russisch schrieben. Alle in dem Zimmer haben sich lebhaft unterhalten. Dann stellte Karl Welz einen älteren Journalisten vor: Georg Öhlscheidt hat noch vor dem Krieg bei den „Nachrichten“ gearbeitet, der Zeitung der Wolgadeutschen Republik. Freudig erregt sagte der Neue: „Als ich von der Gründung der Zeitung erfuhr, überredete ich meine Frau aus dem warmen Kubangebiet in das raue Kasachstan zu übersiedeln. Ich freue mich so sehr, wieder bei einer deutschen Zeitung arbeiten zu können.“
Die Schriftsteller Ernst Kontschak und Dominik Hollmann umringten ihn und der gesprächige Kontschak sorgte für ein lebhaftes Gespräch. Ich hatte mittlerweile von Karl Welz eine kleine Korrespondenz zum Übersetzen bekommen, da kam jemand ins Zimmer und verkündete laut mit freudiger Stimme: „Rudolf Jacquemien ist da, er sitzt beim Chef“. Alle wandten sich der Eingangstür zu, in der auch schon ein stattlicher Herr mit schlohweißem Haar und leuchtenden Augen erschien. Alle erhoben sich und es gab laute Begrüßungen und viele herzliche Umarmungen. „Guten Morgen, Kollegen!“, sagte er. Sein Akzent verriet den in Köln geborenen Rheinländer. So sieht also der Schriftsteller aus, dessen Gedichte ich immer bewunderte, sie wiederholt im „Neuen Leben“ las. Nun saß ich ihm gegenüber an einem Arbeitstisch, und er war mein unmittelbarer Chef, der meine Übersetzungen prüfte. „Nicht schlecht, nur gibt es hier ab und zu russischen Satzbau. Das kann man aber unseren Leuten nicht verdenken, da sie so lange ihre deutsche Muttersprache nicht gebrauchen durften. Sie, Ida, werden es schaffen“, sagte er.
Das Urteil war mir sehr wichtig. Ich hatte mit Vater vereinbart, vorläufig meinen Geburtsnamen nicht bekannt zu geben, damit man nicht als Tochter des Schriftstellers, sondern nur wegen der eigenen Leistungen als Mitarbeiter bewertet wurde. Dann trat Woldemar Borger mit seinem wohl zweijährigen Töchterchen ins Zimmer, in dem es nun ziemlich laut war. Das Kind fing plötzlich an zu weinen. Der Vater versuchte es zu beruhigen: „Still, net greine, ruhig, hör uff zu greine“. Er beugte seinen üppigen braunen Lockenkopf zu dem Kind. Wolgadeutsch wird noch in der Familie gesprochen, schlussfolgerte ich daraus hoch erfreut.
Wir wussten nicht, wer zur Mitarbeit eingeladen worden war, nicht alle kannten einander. Zwar waren manchen Anwesenden einige Namen aus der Zeitung „Neues Leben“ bekannt. Berufsjournalisten der älteren Generation waren nur Karl Welz, Robert Pretzer und Georg Öhlscheidt. Diese beherrschten auch noch die deutsche Sprache. Die jungen Kollegen, hatten zwar Berufsausbildung, konnten aber nur russisch schreiben. Die ganz „alten“ – Dominik Hollmann, Ernst Kontschak, Robert Pretzer, Irma Richter aus Charkow und Heinrich Klassen durften laut Rentengesetz nur zwei Monate pro Jahr etwas zu ihrer Rente hinzu zu verdienen. Sie waren gekommen, um bei der Geburt dieser langersehnten Zeitung zu helfen. Es mangelte noch an sachkundigen erfahrenen Journalisten. Die Deutschen lebten in ganz Sibirien, Kasachstan, Kirgisien, Turkmenien zerstreut, von diesen sollte unsere Zeitung berichten und für diese war unsere Zeitung gegründet worden. Das bedeutete, den in der Steppe, in den kleinen Aulen und Kolchosen zerstreut lebenden Deutschen die Zeitung vorzustellen, aber auch vom Fleiß dieser Menschen zu berichten. Gerade dadurch konnten die Leser gewonnen werden. Darüber sprach der Chefredakteur Alexej Borissowitsch Schmeljow bei der ersten Betriebsberatung am nächsten Tag.
Inzwischen trafen Georg Haffner, Alexander Korbmacher, alles ältere Herren ein, die eigene Schreibmaschinen hatten. Das war wichtig, denn die Bürofrauen machten noch viele Tippfehler beim Schreibmaschine-Schreiben. Eugen Hildebrand aus dem Gebiet Pensa kam – ein junger Herr mit guten Deutschkenntnissen. Nun waren wir zwei Übersetzer: Eugen Hildebrandt und ich. Rudolf Jacquemien wurde Chef des Übersetzerbüros und Stilredakteur. Durch die lange zwangsbedingte Schweigeperiode, hatten wir Deutsche nur viel zu selten deutsch sprechen, lesen und schreiben können. So erachteten es der Chefredakteur und Jacquemien für notwendig, dass alle Beiträge erst vom Stilredakteur gelesen und korrigiert werden mussten. Ohne Jacquemiens Unterschrift durfte nichts in die Druckerei gegeben werden. Mit der Zeit entstand dafür ein Verb jacqueminieren lassen.
Im Oktober und November hatten wir Übersetzer bereits die ersten russischen Beiträge von Journalisten zu übersetzen. Wir zwei hatten unser Büro, in dem wir in Ruhe arbeiteten. Die Journalisten saßen alle in einem größeren Zimmer. Dort war es immer lebhafter. Dann kamen die Korrektoren Maria Klita und Elsa Wildemann. Maria, nur ein Jahr jünger als ich, hatte kurz vor Kriegsausbruch die zehnte Klasse einer deutschen Schule mit Goldmedaille absolviert, war in deutscher Grammatik buchstäblich ein unübertroffener lebendiger „Duden“. Elsa, einige Jahre jünger, stammte aus der Wolgastadt Balzer, sprach gut deutsch, aber hatte eine russische Schule besucht. Ihr fehlten aus diesem Grund öfter volkstümliche Redewendungen, die für Maria und mich geläufig waren.
Frau Irma Richter, eine ehemalige Lehrerin an der Universität Charkow, bildete für die Mitarbeiter der Redaktion einige Gruppen zum Erlernen beziehungsweise Verbessern ihrer Deutschkenntnisse. Eine Gruppe bestand aus Maschinenschreiberinnen, die sie Diktate schreiben ließ. Der Unterricht mit Maria Klita, Elsa Wildemann und mir beschränkte sich auf mündliche Gespräche, damit es für uns wieder zur Gewohnheit wurde, Deutsch zu sprechen.
Vor mir liegt ein Unikat – ein Foto vom Fotografen David Neuwirt vom Dezember 1965. Neuwirt hatte seine Kamera auf unsere Gruppe gerichtet und eingestellt, ist schnell zu uns gelaufen und hat sich zu uns gesetzt. Deshalb ist er ebenso auf diesem Foto zu sehen. Allerdings hatte er vergessen, den Film weiter zu drehen. Aus diesem Grund sind auf dem Foto gleich zwei Motive zu sehen. Weil Neuwirt nur ein einziges Bild davon gedruckt hat, ist dies das einzige Foto von den ersten Mitarbeitern der Redaktion. Es erinnert mich an jene ziemlich schweren Tage der Entstehung der Redaktion, der Geburt der Zeitung „Freundschaft“.
Aber zurück zu den ersten Tagen und Monaten: Die Korrespondenten gingen auf Dienstreisen in alle Richtungen, David Neuwirt mit ihnen, und sie lieferten Berichte und Fotoreportagen. Wir Übersetzer hatten alle Hände voll zu tun. Auch die Maschinenschreiberinnen tippten drauflos. Danach hatten wir das Geschriebene zu lesen und die dabei entstandenen Fehler auszubessern. Erst danach lieferten wir die Seiten an den Autor oder Abteilungsleiter – und ebenso dessen russische Artikel mit unserer deutschen Fassung. Danach kamen diese zum „Jacqueminieren“ in die Druckerei, in der russische Linotypisten das Material in Metallzeilen gossen, die anschließend an einem großen Tisch zu Zeitungsseiten wurde – heutigen Zeitungsleuten ein völlig unverständlicher Prozess mit großem Zeitaufwand, bei dem erneut Tippfehler entstehen. Letztere zu finden und zu korrigieren war Aufgabe der Korrektoren, die ab 14 Uhr in der Druckerei ihre Arbeit begannen. Alle Fahnen, die die Linotypisten am Vormittag abgezogen hatten, wurden in der Redaktion gelesen und die Fehler korrigiert.
Das übernahmen vorläufig Heinrich Klassen oder Irma Richter. Auch für die Arbeit am Nachmittag mußten noch Korrektoren mit guten Kenntnissen der deutschen Sprache gesucht werden. Das war Problem Nr. 1. Alexej Borisowitsch wandte sich auf einer nächsten Betriebsbesprechung an uns, wir sollten alle unsere alten Bekannten und ehemaligen Lehrer ausfindig machen, diese für Arbeit in der Zeitung und insbesondere in der Korrektorei heranzuziehen. Aber vorläufig mussten viele Redaktionsmitarbeiter mit guten Sprachkenntnissen die Fahnen selbst lesen und korrigieren. Schließlich war es so weit – die erste Nummer der „Freundschaft“ wurde gedruckt.

Freundschaft-Redaktion 1966, v.l.n.r. 1. Reihe: Leo Marx, stellv. Ressortleiter Literatur; Karl Welz, verantwortlicher Sekretär; Rudolf Jacquemien, stellv. Ressortleiter Übersetzung; Ida Bender, Stilredakteurin der Übersetzungsabteilung; Friedrich Funk, Gastredakteur. 2. Reihe: Alfred Funk, Korrespondent; Adam März, Literaturessort; Eugen Hildebrand, Stilredakteur der Übersetzungsabteilung; Hugo Wormsbecher, Literaturessort; Heinrich Ediger, Leitung der Poststelle; Johann Sartison, Korrespondent. | Foto: Familienarchiv

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