Eine junge Frau trotzt dem Lauf der Geschichte und kämpft gegen das Vergessen an. Sie rekonstruiert ihre Familiengeschichte, kehrt an Orte zurück, aus denen ihre Vorfahren vertrieben wurden, und nimmt viele Menschen in Sozialen Netzwerken mit. Die Bilder gehen um die Welt und berühren Herzen. In ihren Werken findet sie die Worte für das Unsagbare und prägt eine ganze Generation von Russlanddeutschen. Für ihr literarisches Engagement und ihr Debütwerk „Im letzten Atemzug“, das im Jahr 2019 im ostbooks Verlag erschien, wurde sie vor kurzem mit dem Förderpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.
#gutesMädchen: So lautet der Titel einer Kurzgeschichte der russlanddeutschen Autorin Katharina Martin-Virolainen. Darin beschreibt sie ihren Versuch, sich von den Anpassungszwängen und Erwartungshaltungen ihres Umfelds – in allen Lebenslagen ein „gutes Mädchen“ sein zu müssen – zu lösen und endgültig zu befreien. Sie nennt die Dinge ungehemmt bei ihrem Namen, auch wenn es unbequem ist und anderen nicht passt. Nicht, um zu provozieren, sondern um alte Muster zu durchbrechen.
Katharina Martin-Virolainen ist als Journalistin, Autorin und Kulturschaffende eine beliebte Gesprächspartnerin. Für manche ist sie eine Brückenbauerin zwischen den Generationen von Russlanddeutschen, für andere eine Autorin, die ihre Stimme erhebt und auch unbeliebte, sozial schwierige Themen anspricht.
In ihrem ersten Roman „Die Stille bei Neu-Landau“ lässt sie Frauen zu Wort kommen, die schon immer miteinander reden sollten, es aber nicht konnten. Ein Generationenkonflikt, der zu unerwarteten Lösungen führt.
Das Gespräch mit einer außergewöhnlichen Autorin führte Julia Kling, Jugendbotschafterin der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES, im Rahmen ihres Projekts „FEMMOLOGE: Russlanddeutsche Frauen im Gespräch“.
Katharina, was bedeutet es für dich, eine Autorin zu sein, und wann hast du dich zum ersten Mal als solche wahrgenommen?
Meine Identität als Autorin hat sich in Etappen entwickelt. Es war ein langer Weg, und heute kann ich sagen: Eine Autorin zu sein bedeutet für mich in erster Linie die Selbstverwirklichung.
Ich definiere mich selbst gerne als Geschichtenerzählerin. Eine, die die Sprache als Mittel einsetzt, um die Schicksale von Menschen, insbesondere von Russlanddeutschen, die in mehreren geschichtlichen Kontexten vernachlässigt werden, dem Vergessen zu entreißen. In diesem Kontext ist es mir sehr wichtig, dass meine Sprache authentisch bleibt. Und dass die oftmals schweren Schicksale von meinen Protagonistinnen nicht in elitären literarischen Metaphern untergehen.
Selbstverwirklichung ist ein gutes Stichwort. Man hört immer wieder, dass es gerade für Frauen im Literaturbetrieb nicht einfach ist, sich zu etablieren. Was denkst du darüber?
Ich denke, dass es oft damit zusammenhängt, dass man das Schreiben als Beruf nicht ernst nimmt. Besonders in unserer russlanddeutschen Community wird das Schreiben oft als eine Art Hobby betrachtet. Gerade, wenn deine Vorfahren als Kolonisten und Siedler einem Handwerk nachgegangen sind, das oft einen enormen körperlichen Einsatz erforderte, und die Lebensumstände ihnen wenig Sicherheit boten, denken viele, dass das Schreiben kein zukunftssicherer Beruf sei und man noch etwas „Richtiges“ im Leben lernen sollte.
Frauen sind zudem oft mit anderen gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert als Männer. Von ihnen wird in erster Linie die Erfüllung ihrer „traditionellen“ Rolle als Ehefrau und Mutter erwartet.
Du hast das Schreiben zu deinem Beruf gemacht. Nach deinem Bachelorabschluss in Sprache, Kultur und Translation an der FTSK in Germersheim hast du noch einen Master absolviert. Außerdem bist du Mutter von zwei Kindern und engagierst dich auch im Bereich Jugendarbeit. Wie schaffst du es?
Ich verdanke vieles im Leben meinen Eltern. Bei einigen Entscheidungen, die ich getroffen hatte, waren sie zwar skeptisch, haben mich jedoch stets unterstützt. Sie haben meine Entwicklung zu einer selbständigen und selbstbewussten Frau gefördert. Es war ihnen wichtig, dass ich meinen eigenen Weg im Leben finde.
Sie haben mich oft mit der Kinderbetreuung unterstützt. Während meine Kinder eine schöne Zeit mit ihren Großeltern verbrachten, konnte ich mich meinem literarischen und kreativen Schaffen ohne schlechtes Gewissen widmen: kulturelle Projekte umsetzen, an Lesungen mitwirken, Spurensuche-Reisen unternehmen und so weiter.
Mein Mann und meine Kinder sind ebenfalls meine Unterstützer. Mein Mann liest oft meine Manuskripte und gibt ein ehrliches Feedback dazu. Auch die Kinder finden meine Arbeit und die Themen, mit denen ich mich beschäftige, interessant. Meine Tochter hat zum Beispiel das Cover für mein letztes Buch entworfen und sowohl sie als auch mein Sohn spielen in meiner Theatergruppe mit. So bekommen sie einen spielerischen, kindgerechten Zugang zu der komplexen Geschichte unserer Vorfahren und haben Spaß dabei.
In deinen Texten behandelst du oft schwierige Themen, über die gerne geschwiegen und noch weniger geschrieben wird. In der Erzählung „Mensch sein“ schreibst du von einem Kind, das misshandelt wird und mit häuslicher Gewalt aufwächst. Was gibt dir den Mut, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen?
Nur weil bestimmte Aspekte des menschlichen Lebens verschwiegen werden, heißt es nicht, dass es sie nicht gibt. Mir ist es wichtig, die Lebensrealitäten von Menschen abzubilden. Wenn Menschen über mehrere Generationen hinweg im Krieg traumatisiert wurden und keine Möglichkeit hatten, eine Sprache für ihr Leid zu finden, müssen wir es tun – indem wir darüber reden und schreiben.
In deinem bald erscheinenden Roman „Die Stille bei Neu-Landau“ spielen die Frauen die Hauptrolle. Aber sie sind alles andere als still. Sie setzen sich mit ihrer russlanddeutschen Geschichte auseinander. Ein Generationenkonflikt, der nur selten thematisiert wird und zu unerwarteten Wendungen führt. Eine große Herausforderung! Wie ging es dir damit?
Ich habe die Idee für diesen Roman zehn Jahre lang mit mir herumgetragen und zwei Jahre lang daran geschrieben. Ich wollte einen Roman schreiben, in dem sich unsere Generation wiedererkennt. Es ging um die Scham, die wir nach wie vor als Russlanddeutsche verspüren, wenn wir über unsere Identität sprechen. Aber noch mehr ging es um die Wege, sich von ihr zu befreien. Denn wir haben nichts, wofür wir uns schämen müssen! Und ja, es geht um Frauen und ihre Wege. Dieser Roman ist ein Versuch, die Sprachlosigkeit in Worte zu fassen und zwei Generationen ins Gespräch zu bringen, die es nur selten tun. Es soll eine Ermunterung sein – redet miteinander!