Thomas Brussigs Roman „Wie es leuchtet“ ist ein eher blasses Kaleidoskop der Wendezeit
Es ist wieder Wendezeit in der deutschen Literatur: Thomas Brussig hat einen neuen Roman geschrieben. Diesmal aber, versprach er auf einer Lesung in Chemnitz, sei es definitv seine letzte, abschließende Beschäftigung mit dem Thema. Er wolle nun etwas anderes in Angriff nehmen. Doch bevor es soweit ist, ziehen noch einmal die historischen Ereignisse vom Sommer 1989 bis zum Herbst 1990 vorüber, bevölkert mit mehr oder weniger lustigen Gestalten, die alle ihr persönliches Schicksal in den Wendezeiten erleben.
Thomas Brussig ist bekannt für seine absurden Beschreibungen des Wende-DDR-Alltags. Berühmt sind sein Roman „Helden wie wir“ von 1995, in dem der Mensch Klaus Uhltzscht mittels seines Penis die Mauer zum Einsturz bringt, und der Roman „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“, den Leander Haußmann 2000 verfilmte. Und nun also, nach diversen Drehbüchern für Fernsehserien und dem Stück „Leben bis Männer“, die alle die Wendethematik behandeln, ein weiterer Roman über 1989. Diesmal jedoch soll es ernsthafter sein, ein Buch als Erinnerung, „in dem die Erfahrungen jener Zeit für alle gleichermaßen gültig aufbewahrt sind, so wie ‚Im Westen nichts Neues‘ die Erfahrungen der Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs versammelte“. Philosophische Dimensionen und große Vorbilder werden für ein ehrenwertes Unterfangen aufgerufen, Remarque, Grass, Feuchtwanger, Irving oder Balzac: Alles für den großen abschließenden Wenderoman, dessen Abwesenheit die deutsche Literaturkritik seit jeher beklagt.
„Alles, was ich über diese Zeit weiß, weiß ich von deinen Bildern“ sagt Lena zum Fotografen, der stets mit geschlossenen Augen knipst, weil das wahrhaftiger ist. Schnappschüsse, die aus Geschichten Geschichte machen. Im Hochwasser vom Sommer 2002 sind diese Bilder nun „verschwommen, und die Geschichte beginnt von neuem.“
Eine Geschichte, die ein Puzzle aus Geschichten und Gestalten ist, ein vielgestaltiges Kaleidoskop aus allerlei Farben und Formen – aber lebendig, aufregend und wirklich bunt wird es nicht. Zu sehr ist das alles spaßhafte Karikatur, durchsetzt mit Sentiment, und bleibt doch alles am Kleinteiligen, Privaten kleben. Da ist die vermeintliche Hauptfigur Lena, Physiotherapeutin, die über ein spontan aufgenommenes Lied zur „Jeanne d’Arc von Karl-Marx-Stadt“ avanciert und sich sonst mit Rollschuhen durch die Straßen bewegt. Da ist der eitle Reporter Leo Lattke, der von „einem großen Hamburger Nachrichtenmagazin“ in alle Welt geschickt wird und nun plötzlich nichts mehr zustande bringt. Da ist der beleibte Direktor des Palast-Hotels Alfred Bunzuweit, der mit dem Schalck-Golodkowski-Verschnitt Valentin Eich Berge von Kartoffelpuffern verdrückt und dem Hochstapler Werner Schniedel auf den Leim geht. Da ist der Freigeist Daniel Detjen, der es irgendwann bleiben lässt, seine Teekanne aus Glas nicht abzuspülen. Da ist „der kleine unrasierte Dichter“, eine Paraphrase auf Volker Braun, der plötzlich nicht mehr so bedeutend ist wie vorher und sich schließlich doch rasiert. Da ist im Gegensatz dazu der Autor-didakt Waldemar Bude, ein alter ego Brussigs, der ganz unbefangen im Aufbau-Verlag ein Manuskript einreicht und sich später Bunjee-jumpend umbringt. Da ist die Familie Schreiter, Dr.-Ing. Helfried und Frau, die Tochter Carola während des Ungarn-Urlaubs an einen Westberliner verliert, und und und.
Alle haben sie eines gemeinsam: Sie tragen lustige Namen. Und sie sind Teil einer Veränderung, die chaostheoretisch erklärt wird: „Ich mache einfach etwas, was normalerweise keiner macht. Und wenn noch mehr machen, was normalerweise keiner macht, wenn alle etwas machen, was neu ist, dann bleibt vielleicht bald nichts mehr beim Alten“ sagt Lena und rollert ihrer historischen Bedeutung entgegen. Die Wende war halt nur so eine Laune vieler Leute, einfach mal was Neues zu machen: „Eine Mutter schreibt an den Innenminister. Eine Schriftstellerin tritt aus der Partei aus. Ein Direktor läßt sich scheiden. Ein immer folgsamer Sportstar gibt andere Interviews. Ein Professor macht Yoga. Eine Tierärztin wird Vegetarierin. Ein Journalistikstudent bestellt die Zeitung ab. Ein Hausmeister hört auf zu rauchen.“
Die einzelnen Schicksale selbst spielen dabei eine nur untergeordnete Rolle. Ganz abgesehen davon, dass bis auf den Hochstapler Schniedel und Waldemar Bude keine Gestalt wirklich Figurentiefe erhält. Zu blass und holzgeschnitten ist das Arrangement: Alle Figuren begegnen sich an irgendeiner Stelle des Romans, natürlich ohne sich dabei zu erkennen. Zu plump wurde die Phsychologogiekeule geschwungen, mit der Lena und dem wahrhaftigen Fotografen ein Kindheitstrauma eingebläut ist, von einem mittlerweile masochistischen Provinzintendanten sexuell genötigt worden zu sein. Zu sehr sind sie alle mit historischer Bedeutsamkeit überfrachtet, dass sie immer und überall mit „Leuchten“ beschäftigt sind: „Es lag ein Leuchten über diesen Menschen, aus ihnen flutete rauschhafte Freude. Die Augen strahlten, die Minen waren gelöst, ihre Bewegungen hatten etwas Spontanes.“ Das geht so weit, dass sich manche in ein Nationalpathos hineinrauschen, das mehr als fragwürdig ist: als der Schriftsteller Uwe Nielsen durch das Mauermuseum geht, denkt er plötzlich „einen feierlichen Gedanken: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.“
Brussig widerfährt, gewollt oder ungewollt, das gleiche Schicksal wie seinem Reporter Lattke, der in der mächtigen Anwesenheit von Historischem nur einen einzigen mäßig aufregenden Artikel schreibt, in dem er alles Historische verhandelt zu haben glaubt. So gelingt Brussig ein zwar streckenweise unterhaltsamer Roman, der aber jegliche Tiefe sich mantraartig selbst zuschreibt, um sie bloß nicht aus den Augen zu verlieren: „Und das Leben – ich finde, es leuchtet manchmal. Wenn die Zufälle nur wenig flimmern und flackern, dann kommt nichts zustande. Aber im letzten Jahr, da ist soviel passiert. Natürlich nicht nur mir, sondern auch vielen andern. Und da denke ich, das leuchtet. Das leuchtet so hell, daß man es noch lange sehen wird.“ Das ist eigentlich hauptsächlich kitschig – und da kommt der Roman auch nicht so recht ins Leuchten, da ist es vielleicht grad mal ein wenig heller geworden. Und zum Schluss schwingt sich noch einmal der Schmetterling der Chaostheorie, der Orkane auslösen kann, in die Höhe: „Und als sie den Blick hob, sah sie einen Schmetterling, der, veranlaßt von ihrer Bewegung, seinen Flug begann.“ Nun ja.
Auf den großen Wenderoman muss also weiterhin gewartet werden, falls man das möchte.