Das GoEast Filmfestival des mittel- und osteuropäischen Films wurde 2001 als gemeinsame Idee des Deutschen Filminstituts und des Hessischen Kultusministeriums gegründet. Damals stand die EU-Osterweiterung bevor und man hatte das Gefühl, dass das Wissen über Ost- und Mitteleuropa im Westen Deutschlands begrenzt war. Das wollte man ändern, und seither findet das Festival jedes Jahr im hessischen Wiesbaden statt. Aufgrund der Pandemie findet das diesjährige Festival vom 20. bis 26. April online statt. Der Schwerpunkt liegt auf Zentralasien. Aus diesem Anlass sprach die DAZ mit der Festivaldirektorin Heleen Gerritsen und der Organisatorin des Symposiums, Birgit Beumers.

Ist es nach 20 Jahren noch immer wichtig, den Menschen in Deutschland Osteuropa näherzubringen?

Heleen Gerritsen: Ich kann nicht behaupten, dass sich die Kenntnisse seitdem wirklich verbessert haben. Mittlerweile gibt es jedoch viele Menschen mit Familie oder Wurzeln in Ost- und Mitteleuropa, die auch muttersprachlich damit verbunden sind. Für die gibt es auch nicht unbedingt ein großes Kulturangebot im Rhein-Main-Gebiet, und es ist schön, dass man diese Communities damit erreichen kann.

Lange Zeit war es schwierig, Filme aus Mittel- und Osteuropa in Deutschland zu sehen. Sie wurden kaum im Kino gezeigt und auf Festivals hatte man die beste Chance, solche Filme zu sehen. Diese Nische haben wir gefüllt.

In dem Festival geht es um Regionen, die in den letzten Jahren viel für Schlagzeilen gesorgt haben – wie hat das die Kulturszene beeinflusst?

Gerritsen:  Das ist unterschiedlich. In der Ukraine haben wir gesehen, dass es einen riesigen Aufschwung gab, weil die Filmkunst Teil des Programms war, eine nationale Identität zu finden. Das ändert sich jetzt wieder, und unter Selensky wird das Geld ganz anders verteilt. Wir haben auch einen Film, der sich mit der Region Berg-Karabach beschäftigt. Man sieht alle möglichen Konflikte, die es gibt, im Programm. Oder man sieht es daran, dass es dann keine Filme aus dem Land gibt. Beispielsweise gibt es im Moment sehr wenige Filme aus Belarus.

Glauben Sie, dass dadurch auch mehr Aufmerksamkeit auf das Festival gelenkt wird?

Gerritsen: Ich hoffe es.  Aber ich finde es immer einen Spagat. Man will ja nicht nur Filme ins Programm aufnehmen, die an die Aktualität anknüpfen, obwohl man weiß, dass das bei der Presse und auch beim Publikum am besten ankommt. Man will gerade auch Filmschaffende aufnehmen, die versuchen, experimentelle oder persönlichere Filme zu machen, und Filme fördern, die versuchen, eine eigene Filmsprache zu finden.

Was ist das Besondere an der mittel- und osteuropäischen Filmsprache?

Gerritsen: Sie ist sehr vielfältig, denn es ist eine riesige Region. Gerade in diesem Jahr geht es nicht nur um Osteuropa, sondern auch Zentralasien. Das Medium Film hat sich parallel zur Sowjetunion entwickelt, und alles, was nach deren Zusammenbruch gedreht wurde, war immer eine Reaktion darauf. Entweder wollte man von dieser Filmsprache wegkommen oder man hat sie fortgesetzt.

Birgit Beumers

Birgit Beumers: Ich würde ein Stück weit weggehen von der Frage, ob das nun in eine bestimmte Filmsprache passt oder nicht. Für mich ist das nicht wichtig. Wichtig ist, dass jemand seine eigene Sprache findet, sie entwickelt und umsetzt, und dann kann ich alle Labels dranhängen, wo es reinpasst oder nicht.

Warum haben Sie dieses Jahr Zentralasien als Hauptthema gewählt?

Gerritsen: Vor drei Jahren haben wir den baltischen Ländern ein Symposium gewidmet, weil sie ihr 100-jähriges Unabhängigkeitsjubiläum feierten. Jetzt ist die 30-jährige Unabhängigkeit der zentralasiatischen Länder an der Reihe, und da hat sich das angeboten.

Beumers: Ich finde es auch sehr mutig. Es ist teilweise unerforschtes Land und man muss sich mit der sowjetischen Vergangenheit auseinandersetzen. Außerdem ist es organisatorisch schwieriger.

Warum?

Beumers: Gerade bei älteren Filmen ist es schwierig, an sie heranzukommen, und das hat oft historische Gründe. Es gibt Filme aus der Stummfilmzeit, die von einem sowjetischen Studio gemacht wurden, die sich an einem bestimmten Ort befinden. Dann gibt es Filme aus der Sowjetzeit, die, wenn man viel Glück hat, auch an einem Ort sind, nämlich im Staatsarchiv in Moskau. Aber die Rechte für diese Filme liegen seit ihrer Unabhängigkeit bei den Republiken – manchmal wissen sie das und manchmal nicht.

Dann kommen Sie in die Phase der Unabhängigkeit und haben immer noch die großen Studios – Kazakhfilm, Kirgizfilm, Uzbekfilm – aber es gab auch kleine, unabhängige Studios, bei denen es schwieriger ist, an Filme heranzukommen. In den 90er Jahren gab es Dinge, die wichtiger waren, als darüber nachzudenken, wo man die Filmkopien des gerade gedrehten Films lagert und wo sie überhaupt gezeigt werden. Deshalb gibt es ein paar Jahre, wo es schwer wird, irgendwelche Filmkopien zu finden.

Heleen Gerritsen

Gerritsen: Letztes Jahr war das Thema des Symposiums „Filmerbe der Umbruchszeit“, und da haben wir uns spezifisch mit diesem Chaos auseinandergesetzt. Wenn du einen ungarischen Film suchst, egal aus welcher Periode, weißt du, wo du anfragst, und das funktioniert dann meistens halbwegs. Bei Zentralasien ist das schon abenteuerlicher.

Beumers: Es ist aber nicht nur interessant aus praktischer Sicht. Es sagt auch viel darüber aus, wie die Beziehungen zwischen den verschiedenen Republiken und Moskau heute sind.

Gerritsen: Es ist auch die Frage der nationalen Identität, die man sieht. Schon die Stummfilme beschäftigen sich mit diesem Konflikt zwischen Tradition und Moderne. Die meisten Filme in unserem Programm in diesem Jahr beschäftigen sich damit.

Wird das Thema der nationalen Identität in den letzten Jahren wieder wichtiger?

Gerritsen: Viele neue Filme greifen wieder historische Themen auf, wie z.B. Faridas 2000 Lieder. Da geht es um den Bürgerkrieg und traditionelle Lebensweisen und wie damit umgegangen wird, aber auch die Stellung der Frau. Es sind Themen, die wieder wichtig sind.

Beumers: Ich finde es auch sehr interessant, dies in Bezug zu setzen zu den Debatten, die auch im Film der 1920er und 1930er Jahre stattfanden, wo das Abnehmen des Schleiers ein Zeichen für die Modernität unter sowjetischem Einfluss war.  Wenn wir die Situation heute betrachten, sehen wir, wie mit dem nationalen Erbe und vor allem der mit dem Islam verbundenen Identität der Verschleierung umgegangen wird. Ebenso wie die Kontroversen und Debatten, die dadurch entstehen, und wie sich das im Film widerspiegelt. Sowohl Faridas 2000 Lieder als auch Filme aus anderen Ländern beschäftigen sich mit dem Umgang mit der Vergangenheit.

Gerritsen: Das betrifft besonders Länder mit willkürlichen Grenzen. Es sind keine homogenen Länder, über die wir sprechen. In diesem Sinne ist auch diese Frage der nationalen Identität teilweise eine Fiktion oder nur sehr eingeschränkt gültig.

Beumers: Das gilt in hohem Maße auch für Kasachstan. Kasachstan ist im Grunde als letzte der Sowjetrepubliken entstanden. Sein Territorium ist mit am meisten zusammengewürfelt.

Gerritsen: Es ist gleichzeitig das Land mit der größten Filmproduktion und den am meisten entwickelten Fertigkeiten. Auch außerhalb des Symposiums ist unser Eröffnungsfilm von Adilkhan Yerzhanov, der ein GoEast-Stammgast ist. In seinen Filmen spielen auch Schauspieler mit, die schlecht Kasachisch sprechen, weil sie mit dem Russischen aufgewachsen sind und sich nun damit auseinandersetzen müssen. Er würde zwar nie sagen, dass seine Filme eine politische Ebene haben, doch spielt das immer mit hinein.

Was ist das Besondere am zentralasiatischen Film im Vergleich zu den anderen Filmen, die gezeigt werden?

Gerritsen: Es ist für viele hier in Deutschland sehr exotisch. Wenn wir es mit einem polnischen Film vergleichen, der auf einem Kartoffelfeld spielt, sind die zentralasiatischen Filme mit ihren Landschaften und Kulturen anders. Eine Exotisierung will man aber unbedingt vermeiden. Es geht darum, diese Kultur und diese Filme unserem Publikum näher zu bringen. Aber das macht den Unterschied aus. Unser Name ist GoEast Filmfestival des mittel- und osteuropäischen Films. Diese Filme sind aber nicht europäisch, auch wenn es europäische Einflüsse gibt.

Beumers: Ich glaube aber nicht, dass wir dieses Element des Exotischen einfach wegwerfen können. Natürlich spielt es eine Rolle. Gleichzeitig ist es wichtig, das Exotische nicht in den Vordergrund zu drängen, sondern darauf zu achten, warum die Geschichte auf diese Weise und an diesem Ort stattfindet und warum sie auf diese Weise erzählt wird. Das Wichtigste ist, dass ein Film an unterschiedliches Publikum etwas vermitteln kann.

Was sind ihre besonderen Empfehlungen für dieses Jahr?

Gerritsen: Neben Zentralasien haben wir in diesem Jahr auch einen Programmschwerpunkt zum Thema Weltraum – wir gedenken dem 60. Jahrestag des ersten bemannten Raumfluges von Gagarin. Zum Beispiel mit dem Stummfilm „Aelita – Der Flug zum Mars“ aus dem Jahr 1924, der die Revolution auf den Planeten Mars bringt und den wir mit einem neuen Soundtrack aufführen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Antonio Prokscha.

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