Kasachstan befindet sich heute in einem Prozess, in dem Vergangenheit und Zukunft neu miteinander verbunden werden. Die Geschichte des kasachischen Volkes ist nicht nur eine Abfolge politischer Ereignisse, sondern ein vielschichtiges lebendiges System sozialer Bindungen, die über Jahrhunderte die innere Ordnung der Gesellschaft geprägt haben.

Eine besondere Rolle spielen dabei die Jus und die Ru, also die großen Stammesverbände und ihre einzelnen Linien. Dieses System besitzt in der Welt kaum direkte Entsprechungen und wird heute wieder intensiv diskutiert, während das Land seine moderne nationale Identität gestaltet. 

Das System der Jus entstand im 16. und 17. Jahrhundert während der Formierung des Kasachischen Khanats. Es diente der Organisation eines großen nomadischen Volkes, das auf den weiten Flächen der Steppe lebte und dessen Lebensweise ständige Mobilität, Anpassungsfähigkeit und gegenseitige Unterstützung verlangte. Die drei Jus, der Ältere, der Mittlere und der Jüngere, waren Zusammenschlüsse von Stämmen, die ein gemeinsamer Lebensraum, gleichartige Wirtschaftsformen und kulturelle Traditionen verbanden.

Jeder Jus gliederte sich in zahlreiche Stammesgruppen, die eigene genealogische Überlieferungen pflegten. Diese als Shezhire bezeichneten, mündlichen Familienchroniken bewahrten das Wissen über die Vorfahren und machten es möglich, die Linie der Herkunft oft viele Generationen zurückzuverfolgen. 

Einfluss auf das Leben

In der traditionellen Gesellschaft entschied die Zugehörigkeit zu Stamm und Jus über viele Aspekte des Lebens. Sie beeinflusste Heiratsregeln, gegenseitige Verantwortung und die Stellung innerhalb der Gemeinschaft. Das bekannte Sprichwort Жеті атасын білмеген – жетесіз bedeutet wörtlich: Wer seine sieben Vorfahren nicht kennt, ist ein Mensch ohne Grund und Verstand. 

Es verweist darauf, dass die Kenntnis der eigenen Herkunft nicht einfach Folklore ist, sondern eine moralische und soziale Orientierung bietet. Die eigene Linie zu kennen bedeutete auch, die Verpflichtung gegenüber Älteren und Angehörigen zu verstehen und anzunehmen. Diese Strukturen schufen ein empfindliches Gleichgewicht zwischen persönlicher Identität und kollektiver Solidarität.

Dabei führte das Stammeswesen nicht zu Spaltung, sondern stiftete Zusammenhalt. Die Unterschiede zwischen den Stämmen waren stets eingebettet in das Bewusstsein, einem gemeinsamen Volk anzugehören. In Zeiten von Gefahr oder Bedrohung traten Herkunftsunterschiede zurück. Man sammelte sich unter dem Khan, um die Steppe, die Herden und die Freiheit zu schützen. Diese Fähigkeit zur Einheit war ein entscheidender Grund dafür, dass das kasachische Volk in einer Landschaft überlebte, die von äußeren Mächten, häufigen Völkerwanderungen und historischen Umbrüchen geprägt war.

Im 20. Jahrhundert führte die sowjetische Politik zu tiefgreifenden Veränderungen. Sie versuchte, die Stammesstrukturen zurückzudrängen und als Überreste der Vergangenheit zu verurteilen. Kollektivierung, Industrialisierung und Urbanisierung veränderten Lebensweisen und soziale Beziehungen grundlegend. Doch trotz all dieser Eingriffe ging das genealogische Wissen nicht verloren. Auch in den Städten blieb die Frage nach der Herkunft und Verwandtschaft bedeutend. Familien erinnerten sich weiterhin an ihre Vorfahren, ehrten ihre Ältesten und bewahrten die Verbundenheit mit dem Land ihrer Ahnen. Diese Kontinuität half, die nationale Identität zu bewahren, während bei vielen anderen Völkern traditionelle Bindungen im Zuge der Modernisierung schwächer wurden.

Erneuter Bezug zu den Wurzeln

Mit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 kehrte das Interesse an der Geschichte der Jus sichtbar zurück. Forschungen zur Sozialstruktur der Steppe fanden neues Gehör. Digitale Projekte machten Shezhire zugänglich, so dass auch junge Menschen wieder Bezug zu ihren Wurzeln herstellen konnten. Dokumentarfilme, Bildungsprogramme und kulturelle Initiativen trugen dazu bei, dass das Stammesgedächtnis erneut ein lebendiger Teil der Gesellschaft wurde.

Gleichzeitig zeigte sich, dass das Erbe der Jus verantwortungsvoll gepflegt werden muss. Die Kenntnis der eigenen Herkunft sollte nicht zu neuen Trennlinien führen. In manchen politischen und medialen Diskussionen wird die Zugehörigkeit zu einem Jus zur Abgrenzung genutzt. Solche Entwicklungen widersprechen dem Kern der historischen Erfahrung. Denn die Stärke der Kasachen lag nicht im Trennen, sondern im Zusammenfinden.

Kasachstan steht heute vor wichtigen Zukunftsaufgaben. Politische Reformen, wirtschaftliche Modernisierung und gesellschaftliche Erneuerung verlangen nach einem gemeinsamen Bewusstsein. Die Erinnerung an die drei Jus sollte als kulturelle Quelle von Stolz, Selbstvertrauen und gegenseitigem Respekt verstanden werden. Sie zeigt, wie ein Volk über Jahrhunderte Sprache, Kultur und Würde bewahren konnte.

Kasachstan ist heute ein Land, in dem jede und jeder die Möglichkeit hat, zur gemeinsamen Zukunft beizutragen. Wir sind Erben der drei Jus und zugleich ein Volk mit gemeinsamer Geschichte und gemeinsamen Hoffnungen. Die wahre Stärke der Kasachen lag immer in der Fähigkeit zur Einheit. In einer Zeit globaler Veränderungen bleibt es entscheidend, sich daran zu erinnern, dass wir Kinder derselben Steppe, derselben Sprache und einer gemeinsamen Bestimmung sind.

Ruslan Mussirep

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