Vergang’ne Zeiten kehr’n niemals wieder… Doch wenn die Alten das Glas erheben, dann kehrt noch einmal die Jugend zurück. Nur als Margo dieses Ständchen, das Lied „Schön ist die Jugend“, zu ihrem 80. Geburtstag vernimmt, sind es keine schönen Erinnerungen, die sie einholen. Denn die Jugend ist ihr geraubt worden und irgendwo zwischen der Ukraine, Deutschland und Kasachstan buchstäblich auf der Strecke geblieben…
Wie viel kann ein Herz ertragen?
„Die Beamtin, die schon einige Jahre Berufserfahrung hatte, war auf solch eine Situation in keiner Fortbildung, in keinem Workshop und in keiner Gruppensitzung vorbereitet worden. Mit zitternder Stimme erzählte sie der alten Dame, dass sie ihren Mann gefunden haben…“
Ich erinnere mich noch genau an die Erzählung „Ein gewöhnlicher Fall“ aus Katharina Martin-Virolainens Erstlingswerk „Im letzten Atemzug“. Damals dachte ich bei mir: Was für ein schweres Los! Zwar hatte es auch unter meinen schwarzmeerdeutschen Vorfahren gewaltsame Trennungen und Verschollene gegeben. Doch dass ein Ehepaar, dessen einziges Liebeszeugnis eine gemeinsame Tochter war, den jeweiligen Partner jahrzehntelang für tot hielt? Nein, allein die Gewissheit, dass es solche Leidenswege tatsächlich gab, empfand ich bei der Lektüre als schier unerträglich.
Zwei Jahre später versank ich in Katharina Martin-Virolainens Roman-Debüt „Die Stille bei Neu-Landau“ und lernte eine weitaus grausamere Variation desselben Erzählstoffs kennen. Denn plötzlich ist es außer dem alten Mütterchen auch noch seine Schwester, die unter dem Verschwinden des Mannes mit dem Namen Christian Stille ein Leben lang still vor sich hin gelitten hat.
Diese Wendung zeigt eine Vielschichtigkeit, die mich bei dem nach „Heimatfilm“ riechenden Werktitel überrascht und beeindruckt hat. Denn die Stille bei Neu-Landau ist zum einen die ländliche Idylle, die bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im schwarzmeerdeutschen Dörfchen herrschte. Die Stille ist auch die Protagonistin, die der ältesten Schwester zuliebe ihre romantischen Gefühle für deren Ehemann ein Leben lang für sich behält.
Und schließlich ist die Stille das Schweigen, in das sich die Überlebenden und Nachgeborenen aus Selbstschutz hüllen und das sich über das ausgelöschte Fleckchen Erde legt – bis zu jenem Tag im Sommer 2018, als die fast 30jährige Julia Eisenbrenner beschließt, dem Unbehagen endlich nachzugehen, das sie seit Großtante Margarethes heimlich beobachtetem Zusammenbruch zu deren 80. Geburtstag plagt.
Die ewige Unschuld vom Lande?
Julia will raus aus der Großstadt Berlin. Die alleinstehende, kinderlose Frau beschließt, in ihrer Millenials-Bilderbuchkarriere eine Pause einzulegen, und kehrt auf unbestimmte Zeit heim. Oder ist es weniger, und kehrt sie einfach nur zurück ins Ländle? Denn ob und wo Julia denn nun dazugehört, beschäftigt sie, seit ihre Familie Mitte der 90er Jahre als Spätaussiedler aus dem postsowjetischen Kasachstan in die Bundesrepublik Deutschland einwanderte.
Julia ist rastlos und stellt Fragen, auf die sie bei den Eltern zunächst allenfalls unbefriedigende, dann aber bei der nunmehr 92-jährigen und damit ältesten noch lebenden Verwandten, Großtante Margarethe, geradezu erschreckende Antworten findet. Julia findet heraus, dass ihr „Gefühl, als würde… etwas fehlen“ (S.8), jene Rastlosigkeit spiegelt, die ihre „Tante Margo“ in der Nachkriegssowjetunion verspürte, nachdem das Rote Kreuz sie informierte, dass ihre große und einzige Liebe unerfüllt bleiben musste. Ebenso wie ihre Träume, Wünsche und Hoffnungen.
Julia findet heraus, dass ihre verstorbene Oma Magdalena Eisenbrenner, geborene Thiessen, vor ihrem Großvater noch einen anderen Mann geliebt und geheiratet hat: Christian Stille. Es ist sein Kind, das sie unter dem Herzen trägt, als die Familie 1941 unter deutsche Besatzung gerät. Es ist seine Tochter, die das Licht der Welt erblickt, kurz bevor der Zug, der sie „Heim ins Reich“ bringen soll, bombardiert wird. Und es ist sein eigen Fleisch und Blut, das niemals erfährt, wer der leibliche Vater gewesen ist.
Der Roman schließt mit den Worten: Das Schicksal ist, wie es ist, und wir kennen nicht das Warum. Doch während mit einer ähnlich gelagerten Abstammungserkenntnis in Eleonora Hummels Roman „Die Fische von Berlin“ (2005) endlich der Knoten platzt, mit dem die Heilung der Familienbande einsetzen kann, liegt eine Erlösung in „Die Stille bei Neu-Landau“ noch in weiter, weiter Ferne.
Deutsche Frauen, deutsche Treue?
Christian Stille, den Margo bei der ersten Begegnung als vollkommenen Märchenprinzen kennen und lieben lernt, ist einer von zahlreichen Männern, die dem Leben der nur noch aus Frauen und Mädchen bestehenden Familie Thiessen eine entscheidende Wendung geben. Diese Männerfiguren sind ambivalent: oft handeln sie wohlmeinend, häufiger jedoch verfügen sie über eine zerstörerische Macht.
Wie der sowjetische Beamte, der aus Margarethe, Tochter von Reinhold, unvermittelt ein „richtiges sowjetisches Mädchen“ namens Margarita Romanowna macht: „Vergesst eure Faschistennamen lieber ganz schnell. Seid dankbar, dass wir euch annehmen und zu guten Menschen machen wollen.“ (S.147)
Margo jedoch hält es irgendwann nicht länger aus, sich selbst verleugnen zu müssen. Bereits gegen Ende der 50er Jahre spielt sie mit dem Gedanken, nach Deutschland zurückzukehren – doch alles in der Still, und wie es sich schicket. Bis der Schuldirektor, der sich einst für ihre Anstellung als Lehrerin engagiert hat, ihr statt der Auswanderung lediglich einen Umzug nahelegt. Worauf sie mutig entgegnet: „Dann wäre ich aber immer noch in der Sowjetunion.“ (S.150)
Es ist eine Szene, die an Nadja Schapows/ Orjols/ Zirners dritte Haftzeit in Nelly Däs‘ Roman „Das Mädchen vom Fährhaus“ erinnert, als sie das Leben in der Sowjetunion, erstmals frei von jeder Angst, schonungslos als „Gefängnis“ bezeichnet. Was Margo jedoch nicht ahnt, ist, dass die Fesseln der Vergangenheit nicht mit der neuerlichen Flucht nach Deutschland von ihr abfallen. Auch nicht mit dem Todesbescheid oder gar mit dem Wiederfinden von Christian Stille. Vergang’ne Zeiten kern’n niemals wieder, verschwunden ist dein junges Blut. So findet die arme Seele erst dann endlich Ruh‘, als sie von der Stillen zur Sprechenden wird…