Legenden ranken sich um den Berg Kazygurt im Süden der kasachischen Stadt Shymkent. Nicht nur die Karawanen der Seidenstraße passierten den Sattel der Bergkette, auch die Arche Noah soll hier auf Grund gelaufen sein.

Die Bergkette ist von Schymkent aus am besten per Auto oder Taxi zu erreichen. Bei klarem Wetter lassen sich ihre imposanten Gipfel bereits kurz nach dem Verlassen der Stadt erkennen. Der höchste Gipfel, der Kazygurt, liegt am westlichen Ende. Obwohl die Bergkette niedrigere Höhen als das Hauptgebirge des Tienschan erreicht, besticht sie durch ihre schroffen Flanken um den Hauptgipfel und ihre Lage, umgeben von sanften Hügeln, die sich weiter südlich und östlich bis zum Hochgebirge erstrecken. Die Landschaft ist karg: Bäume wachsen hier nur vereinzelt und Gräser und Büsche prägen die Vegetation.

Der erste Anlaufpunkt ist das Akbura-Mausoleum am Fuße des Kazygurt, eingebettet in ein kleines, beinahe grünes Tal. Auch dieser Ort ist heilig, denn in der Zeit des großen Chodscha Ahmed Yasawi soll hier ein Sufi namens Akbergen gelebt haben. Yasawi war ein bedeutender Dichter und Vertreter des Sufismus, einer asketischen und weithin als mystisch betrachteten Strömung des Islam. Das ihm gewidmete Mausoleum steht in Türkistan, einem der beliebtesten Reiseziele Kasachstans. Akbura bedeutet „weißes Kamel“, denn Akbergen soll stets auf einem solchen Tier geritten sein. Man sagt, das Tier sei nach dem Tod des Sufis aus Trauer zu Stein erstarrt und die Tränen bildeten nun die Quelle Akbura.

Heute ist das 1991 erbaute Mausoleum ein Ziel für Frauen, deren Schwangerschaften fehlgeschlagen sind. Das Wasser der Quelle ist heilig. Es soll vor Krankheiten schützen und die Gebärfähigkeit wiederherstellen. Oft ist es jedoch ziemlich ruhig, nur eine Familie wohnt am Mausoleum und die Straße endet dort, sodass es kaum Verkehr gibt.

Atemberaubendes Panorama beim Aufstieg

Hat man im heiligen Wasser gebadet und dem Sufi seinen Respekt gezollt, kann der Aufstieg zum Gipfel beginnen. Dafür muss man etwa 500 Meter auf der Straße zurück Richtung Atbulak gehen, bis kurz bevor sie eine 90-Grad-Kurve nach links macht. Hier beginnt ein Feldweg Richtung Gipfel. Zunächst führt er über grüne Weiden und an vereinzelten Bäumen vorbei. Anfangs deuten noch Pferde auf die Anwesenheit von Menschen hin, je höher man gelangt, desto undeutlicher wird jedoch die Wegführung. Manche Passagen sind steil und steinig. Im Hochsommer gibt es wenige Stellen, an denen man Schutz vor der sengenden Hitze finden kann. Niedriges Gebüsch bietet zumindest Tieren einen Unterschlupf.

Auf unserer Wanderung sind Pferde, Greifvögel und Eidechsen die einzigen Begegnungen. Nach anderthalb bis drei Stunden erreicht man den Gipfel auf 1.768 Metern Höhe. Und erst ab kurz vor dem Gipfel lässt sich das ganze atemberaubende Panorama erblicken: Im Norden ist die Millionenstadt Schymkent zu erkennen und das Dorf Atbulak. Im Osten sind die benachbarten Höhen der Bergkette zu sehen, die man über einen Pfad auf dem Bergsattel erreichen kann. Dahinter und im Süden ragen die oft schneebedeckten Gipfel des Tienschan auf. Ihr Anblick ist wahrhaft majestätisch und rechtfertigt die Strapazen des Aufstiegs.

Nach Norden fällt der Gipfel besonders steil ab, und vor dem Abgrund steht das Gipfelkreuz. Anstatt eines Kreuzes mutet es eher wie eine auf einem Speer aufgespießte Weltkugel an. Es markiert gleichzeitig die Stelle, an der Noah mit seiner Arche gestrandet sein soll. Beweise für diese Version der Geschichte gibt es nicht, doch auch die in der Bibel erwähnte Stelle am Berg Ararat konnte bis heute nicht bestätigt werden. Bewiesen ist jedoch, dass sich hier vor langer Zeit ein Ozean befunden und der Kazygurt darin eine Insel gebildet hat.

Keine Menschenseele, soweit das Auge reicht

Wenn man den fantastischen Ausblick ausreichend genossen hat, könnte man Richtung Osten weiter in die Bergkette vordringen. Dazu sollte genügend Wasser und Proviant mitgebracht werden, denn der Weg bis zur Hauptstraße ist weit und nicht ausgeschildert. Dort auf jemanden zu treffen ist unwahrscheinlich. Der sichere Weg führt also zurück Richtung Mausoleum. Auch hier ist Vorsicht geboten, nicht vom Pfad abzukommen. Scheint er immer weniger ausgetreten, sollte man zurück gehen und dem Hauptweg folgen.

Ist die Wiese wieder erreicht, ist der schwierige Teil geschafft. Zumindest, wenn man mit dem eigenen Auto angereist ist. Ist man jedoch mit dem Taxi gekommen, so wartet unten an der Straße lediglich gähnende Leere: keine Menschenseele, soweit das Auge reicht. Mit viel Glück gibt es im Mausoleum Besucherinnen und Besucher. Dann lässt sich sicher eine Mitfahrgelegenheit organisieren. Gibt es jedoch keine, müssen die knapp sieben Kilometer bis nach Atbulak zu Fuß zurückgelegt werden. Die in den Großstädten üblichen Taxi-Apps funktionieren hier nicht.

Auf den Spuren der Arche Noah

Auf dem Weg nach Atbulak kann man rechterhand immer wieder den Gipfel sehen und sich am eigenen Erfolg erfreuen. Einige der Kurven der nun befestigten Straße lassen sich querfeldein abkürzen. Auch hier ist es wahrscheinlicher, Reitern zu begegnen, als Autos. Am Südrand von Atbulak liegt eine Schule. Wir haben dort glücklicherweise jemanden gefunden, der uns ein Taxi zurück nach Schymkent vermittelt hat.

Wer jedoch noch nicht genug von der Legende um die Arche Noah hat, kann noch Keme Kalgan besuchen. Das bedeutet „verbleibendes Boot“ auf Kasachisch und ist ein Nachbau der Arche Noah an der Schnellstraße, die von Schymkent nach Süden zur Grenze zu Usbekistan führt. Es wurde 1991 errichtet und soll in vier Stunden zu Fuß vom Mausoleum zu erreichen sein.

Der Tag an und auf dem Kazygurt war von unserer Zeit in Schymkent der mit Abstand interessanteste und abenteuerlichste. Die Stimmung auf dem Berg, der Ausblick, die Einsamkeit und die Lage des Mausoleums sind unglaublich schön und haben uns wirklich begeistert. Ob sich der Besuch des Nachbaus der Arche oder der lange Weg Richtung Osten zur Hauptstraße lohnt, würde ich gerne bei einem weiteren Ausflug herausfinden.

Lukas Grebenstein

Teilen mit:

Все самое актуальное, важное и интересное - в Телеграм-канале «Немцы Казахстана». Будь в курсе событий! https://t.me/daz_asia

3 Kommentare

  1. Lukas Grebenstein scheint ein Neuling in der Schreiberbranche zu sein, zumindest sagt mir dieser Name bisher nichts.
    Aller Anfang ist schwer und so scheint es auch bei diesem Artikel zu sein.
    Doch der Schein trügt!
    Ein meisterhafter Bericht über einen Ort der vielen bis dato unbekannt war und nun in unser aller Herzen und Gedanken lebendig wirkt.
    Bei der Lektüre fühlte ich mich als wäre ich selbst dabei gewesen und hätte gemeinsam mit dem Autor diesen Berg erklommen.
    Ich hoffe auf weitere spannende Artikel von diesem tollen Mann.
    Von mir gibt es 8 von 9 Eidechsen für ebendiesen.

  2. Dieser Artikel ist
    SCHön
    Ausgefallen
    NieDagewesen
    Erquickend.

    In diesem Sinne danke ich Ihnen für diesen tollen Artikel Lucas Grebensten und hoffe auf viele weitere!!!!!
    Sie sind ein Meister ihres Fachs, ich bin fasziniert ob ihrer Eloquenz.
    Ich liebe jedes einzelne Wort in diesem Meisterwerk.
    Mit besten Grüßen,
    Günther

  3. Ich danke dem Autor für einen interessanten und informativen Artikel. Diese Region unseres Mutterlandes hat wirklich eine Geschichte voller historischer Ereignisse.

Kommentarfunktion ist geschlossen.