Den ganzen Tag mit dem eigenen Pferd verbringen, davon träumen in Deutschland viele Mädchen. Für Mascha, eine Russin aus dem Süden Kasachstans, bedeutet es tägliche Arbeit. Den Lebensunterhalt für ihre Familie verdient sie durch die Vermietung ihres Pferdes an Touristen aus der Stadt
Sonntag vormittag, elf Uhr. Im Nationalpark „Transili-Alatau” herrscht dichter Verkehr. Jeeps jagen im Minutentakt die Straße hinauf, laut hupend, wenn waghalsige Rodler den Weg blo-ckieren. Die Sonne scheint warm wie seit Tagen nicht, und die Leute flüchten aus der Stadt. Mit Grill, Schaschlik, selbstgemachtem Plow und Wodka ausgerüstet, suchen sie Erholung in den Bergen und einen Platz zum Feiern – denn es ist Masleniza. Die Kasachstaner verabschieden den Winter.
Mascha bleibt unbeeindruckt von Kindern, Verkehr und Lärm auf der Straße. Sie geht zur Arbeit. Mascha ist elf Jahre alt. Und genau gesagt geht sie nicht zur Arbeit, sondern sie reitet. Gelassen sitzt sie auf dem mageren, braunen Pferdchen und beäugt unter ihrer Mütze hervor den steten Menschenstrom, der sich die Straße hinaufbewegt. Der Tag verspricht gute Geschäfte. Mascha will zum Picknickplatz oberhalb ihres Dorfes, wo sich die Leute versammeln, um gemeinsam zu feiern. Ein paar hundert Meter vor dem Festplatz schwingt das Mädchen seine Peitsche und galoppiert in die Menschenmenge hinein.
Hier oben trifft Mascha ihre Kollegen. Eine Handvoll Männer aus dem Dorf begrüßt das Mädchen mit den Sommersprossen wie einen der Ihren, obwohl sie ihnen nicht einmal bis zur Brust reicht. Wie Mascha sind sie mit ihren Pferden gekommen. Für ein paar Tenge lassen sie die Leute aus der Stadt reiten oder Schlitten fahren und verdienen sich so etwas dazu. Die Lust am Reiten scheint die Bewohner Kasachstans zu vereinen, denn die Pferde werden von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen umlagert.
Auch Mascha muss sich um ihren ersten Kunden kümmern. Kurz noch einmal den Sattel festgezogen und das Zaumzeug kontrolliert, dann hilft sie einer jungen rothaarigen Frau aufs Pferd. 250 Tenge sind vorher in Maschas Jackentasche gewandert. Sie drückt der Frau die Zügel in die Hand, und gibt knappe Anweisungen: „Linksherum – links ziehen, rechtsherum – rechts.” Dann gibt sie dem Pferd einen Klaps auf den Hintern, und die Rothaarige reitet davon.
Im Winter sei sie fast jedes Wochenende hier draußen, erzählt Mascha, während sie sich um die Pferde kümmert, flink unter ihren Hälsen hindurchkriecht und nach dem Sattelzeug schaut. Angst kennt sie nicht, der Umgang mit den Tieren ist ihr vertraut. Mit ernster Miene dirigiert sie Menschen und Pferde und wird offensichtlich von beiden als Autorität akzeptiert. „Mädchen, Mädchen” ruft eine Kasachin, die ihr Pferd nicht von der Stelle bekommt. Mascha eilt zu ihr hin, greift dem Pferd in die Trense und führt es ein gutes Stück, bis sie es schließ-lich überzeugt hat, mit seiner unerfahrenen Reiterin allein weiterzulaufen.
Was für viele Kinder aus der Stadt wie ein „Traumberuf” aussieht, ist für Mascha Arbeit. Sie verdient den Lebensunterhalt für ihre Familie. Zwei ältere Schwestern leben in der Stadt, sie selbst wohnt mit der Mutter im Dorf. Pferde sind das Kapital der Familie, über das der kasachische Onkel verfügt. Bei ihm liefert Mascha das Geld ab, das sie verdient. „Brutto” ist jedoch nicht gleich „Netto”, denn die Hälfte ihrer Einkünfte haben die Pferdebesitzer hier oben an den zuständigen Nationalpark-Ranger abzuführen. Unter seinem wohlwollenden Blick akquiriert Mascha weitere Kunden und handelt souverän die Preise aus, Kinder 200 Tenge, Erwachsene 250. Umgänglich und tüchtig sei sie, lobt er die kleine Geschäftsfrau. Als es zu einem Streit kommt, weil ein englisches Ehepaar nur dreißig statt 300 Tenge für eine Schlittenfahrt bezahlen will, holt Mascha den Ranger herbei. Er soll den Streit schlichten. Schließlich ziehen die Engländer zu Fuß weiter, der Schlittenbesitzer bleibt unbehelligt, die Hand des Gesetzes hat sich schützend über den Schwarzarbeiter gelegt.
Für Mascha, die seit dem sechsten Lebensjahr reitet, ist ihr Pferd ein Arbeitstier, kein Spielzeug. Stolz nennt sie seinen Namen, Schorgà heißt der Hengst. „Das ist kasachisch und bedeutet Galopp, so wie der Tanz”, erklärt sie. Mit solchen Pferden sei einst Dschinghis Khan bis nach Ungarn geritten, ergänzt der Ranger, und zählt die Vorzüge der Rasse auf: Zähigkeit, Ausdauer und Geduld.
Obwohl Mascha hier oben wie eine Erwachsene behandelt wird, ist sie doch ein Mädchen mit Mädchenträumen. Als es ihre Kollegen nicht hören, gesteht sie, dass sie Sängerin werden wolle, doch wisse sie jetzt schon, dass sie nach der Schule stattdessen bei einer ihrer Schwestern im Lebensmittel-Laden helfen wird. Zur Schule geht sie in Almaty, drei Tage in der Woche ist sie dafür in einem Internat, die restliche Zeit zu Hause in ihrem Dorf. Sie sei jetzt in der vierten Klasse, erzählt sie, und wenn es nach ihrer Mutter ginge, würde sie die Schule schon in diesem Jahr verlassen.
Doch Zeit für lange Gespräche hat Mascha nicht. Ein selbstsicherer Herr, der mit seinen Reitkünsten wohl Eindruck bei seinen Begleiterinnen machen wollte, bringt ihr Schorgà zurück. Ungerührt nimmt das Mädchen die Zügel entgegen, setzt sich selbst aufs Pferd und hebt einen Zweijährigen zu sich in den Sattel. Geschäft ist Geschäft, es gilt, den Tag zu nutzen.
Als am späten Nachmittag die Schatten ins Tal einziehen und es merklich kälter wird, beeilen sich die Ausflügler, wieder in die Stadt zu kommen. Zurück bleiben Pappteller auf den Tischen und der Geruch von gegrilltem Hammelfleisch, Wodka und Benzin in der Luft. Auch Mascha macht sich auf den Heimweg. Längst hätte sie zu Hause sein sollen, doch dass sie sich um mehr als eine Stunde verspätet, macht ihr offenbar nichts aus. Müde trottet Schorgà den Berg hinab, müde schaukelt seine kleine Reiterin ihrem Bett entgegen. Als ihr ein paar Halbwüchsige aus dem Dorf zurufen „Hej, Mascha, wieviel hast Du heute verdient?”, antwortet sie nicht, biegt in eine Seitenstraße und verschwindet in der Dämmerung.