Kulager – lautet der Name des Pferdes des kasachischen Dichters Akan Seri. Ilijas Shansugirows Volksepos über diese Tragödie ist zum Sinnbild des Stalinismus geworden. Seit 2016 ist das Werk auf Deutsch zu lesen – und damit ist ein weiterer zentralasiatischer Dichter der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht.
Erstmals ist das Epos „Kulager“ des kasachischen Schriftstellers Ilijas Shansugirow auf Deutsch zu lesen. Der Schriftsteller Gert Heidenreich hat mehrmals Kasachstan bereist und mit Unterstützung des Goethe-Instituts Kasachstans eine Nachdichtung des bekannten Volksepos auf Deutsch verfasst: „Das Lied von Kulager“.
Das originale Werk Shansugirows ist auf Kasachisch verfasst und eine Vielzahl HelferInnen haben zu der deutschsprachigen Ausgabe beigetragen. Diese Informationen sind leider erst dem Nachwort des Buchs zu entnehmen, wo es doch ein schönes Beispiel der kulturübergreifenden Zusammenarbeit darstellt. Zunächst schufen die ÜbersetzerInnen Saltanat Aschirowa, Tansulu Rachimbajewa, und Iman Jestjew eine wörtliche Übersetzung des kasachischen Originals auf Deutsch. Auf dessen Basis hat der Schriftsteller eine deutsche Fassung in Versen geschaffen, dessen Rhythmus die besondere Atmosphäre des Originals einzufangen versucht.
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Das Ergebnis passt gut in die von Ilija Trojanow herausgegebene Reihe „Weltlese – Lesereisen ins Unbekannte“, in welcher bisher weitgehend unbekannte SchriftstellerInnen aus aller Welt in Deutschland lesbar gemacht werden. Denn wie eine Reise in eine andere Zeit und einen anderen Ort fühlt sich auch das Lesen dieses Werks an: In den Versen des Volksepos breitet sich die kasachische Kultur vor den Lesenden aus, bricht damit europäische Normalitäten und schafft neue. Das Selbstverständnis des Kasachen, die Liebe zu seinem Pferd und der Stellenwert des Stolzes sind dem deutschen Durchschnittsleser vielleicht nur aus der Ferne bekannt, erklären sich aber in detaillierten Beschreibungen der Handlung. Starke, oft überzogene Rhetorik und eine bildhafte Sprache tragen dazu bei.
Shansugirow erzählt von Akan
Shansugirow erzählt die Geschichte eines weiteren kasachischen Dichters aus dem 19. Jahrhundert – Akan Seri. Dieser hatte sein sehr geliebtes und schnelles Pferd Kulager zu einem großen Rennen in der Steppe antreten lassen. Von einem Neider, der sein eigenes Pferd gewinnen sehen wollte, wurde es während des Rennens umgebracht, sodass es nie das Ziel erreichte. Der Dichter, dessen Pferd ihm mehr als alles andere bedeutete, zog sich daraufhin in die Einsamkeit zurück. Die Lieder, die er daraufhin schrieb, waren bloß traurig, sein bekanntestes war das Lied über „Kulager“.
Shansugirow, der 1894 in Kasachstan geboren wurde, erzählte diese alte Geschichte auf Basis von Akans Lied nach. In dem Kontext seiner Zeit jedoch verwandelte sich die alte Handlung in aktuelles politisches Geschehen. Die Stalinisten lasen in der Handlung um den Tod des Pferds und das Schweigen des Volks, das zwar das Unrecht gesehen hatte, sich aber aus Angst vor den Herrschern duckte, eine Kritik am Regime. Sie verhafteten Shansugirow 1937, ließen die Ausgaben „Kulagers“ vernichten und richteten den Schriftsteller kurz darauf hin.
Das Totenfest in der Steppe
Schauplatz der in diesem Epos erzählten Handlung ist ein Fest: Zu der Totenfeier eines reichen Mannes – der ein Jahr zuvor verstorben war und zwar Einfluss hatte, aber nicht als gut galt – treffen sich in der Steppe nach alter Tradition Menschen von nah und fern. Der Stamm des Verstorbenen lädt ein: Mitten in der Steppe sind weiße Jurten aufgebaut, ein Pferderennen ist organisiert, Schlachtvieh wird bereitgehalten: „Kaum ein Kasache will das Fest versäumen.“
Die Menschen kommen in Scharen, um dem Fest, das sich im Land herumgesprochen hat, beizuwohnen und „die Menschenmenge ist so ungeheuer, dass sich die Erde einzubiegen scheint“. Ein jeder Gast bringt großzügig gemästetes Vieh zum Schlachten und Kymys – fermentierte Stutenmilch mit ein wenig Alkohol – mit. Für die Tausenden Menschen stehen „Seen voller Stutenmilch und Fleischgebirge“ bereit, so beschreibt der Dichter Shansugirow großzügig den Schauplatz des Gelages.
Die Ungleichheit wird zum Protagonisten
Doch zum Protagonisten dieser Feierlichkeit wird die Ungleichheit, die sich allein in der Beschreibung des Festessens ausdrückt, das in nichts einem gemeinsamen Mahl ähnelt: „Sturzbetrunkne Richter kotzen Kymys“, während „die Waisenkinder und die Hunde sich in der Küche ihre kleine Mahlzeit“ stehlen. „Sehr dicke Männer schlingen Fett und Fleisch“, während „Bettler unterwegs von Tisch zu Tisch“ sind, „die Taschen voller abgenagter Knochen“. Shansugirows Fazit des Gemenges lautet: „Die Armen schuften, und die Reichen mäkeln“.
Der Dichter – ein freier Vogel
Das Fest wird damit zum Abbild des Volkes selbst, das hier zusammentrifft, und der Ungleichheit, die hier überhandgenommen hat. Der Dichter Shansugirow macht damit der Beschreibung des Seris alle Ehre: Seri wurden jene Männer genannt, die mit ihrer Kunst die Ungerechtigkeit, die im Volk herrschte, geschickt darzustellen wussten. „Sie hatten viele Gefährten, reisten von einem Dorf ins andere, sangen, jagten, führten ein freies Leben“, erklärt das informative Vorwort. Seit dem 6. Jahrhundert ist die mündliche dichterische Tradition in den turksprachigen Völkern verbreitet, und so nimmt der Dichter, auch Seri genannt, in dieser Gegend eine besondere Rolle ein. Das Bild des kasachischen Dichters wird in diesem Epos auf feine Weise nachgezeichnet. Er wird als „das Wort“ selbst beschrieben, als einer, der „auf sein Volk hört“ und „schneller als alle“, der „führende Denker“ sei. Er ist Sprechen, Hören und Fühlen sowie der Spiegel seines Volkes: Wenn das Land in schlechten Zeiten lebt, sind auch die Lieder, die er schreibt, traurig.
„Gipfel, Pferde, Liebe, und auch des Adlers Anflug auf die Beute“
Sein Lebtag besingt er „Gipfel, Pferde, Liebe, und auch des Adlers Anflug auf die Beute“. Doch trotz seines geselligen und wilden Lebens, das sich als Sinnbild der Freiheit versteht, umgibt ihn eine gewisse Einsamkeit: „Nicht jeder sieht die Edelsteinburgen“, die er aus Worten baut und während die einen sagen, „er sei ein Poet, sagen die andern, er tauge nichts“.
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Die Arbeit des Dichters, der die Schönheit der Sprache in Person ist, wird in bildreichen Sätzen beschrieben: Er breite „Goldwörter aus wie ein Händler“ und baue mit seiner Kunst ganze „Paläste“. „Wie reife Stutenmilch“ schüttle er „nahrhafte Worte“ und „jedes Lied“, das er dichte, „beginnt wie der Fluss“.
Böser Zungenschlag
Der Bildreichtum dieser Sprache macht die Figur des Dichters zu etwas Sensiblem. Einfühlsam muss er zunächst hören, um daraufhin Großes zu sagen. Aber so stark er mit seinen Worten auch sein mag – hier wird er auch verletzlich. Die Sprache, die der Seri verkörpert, kann ihm zum größten Feind werden: Er fühlt sich „gedemütigt von bösem Zungenschlag“, und das Herz wird ihm „zerschnitten durch den Hass der Neider“, „Verleumdung“ verletzt seinen Stolz.
Manche Passagen in Shansugirows langem Gedicht werden von derart grober Rede dominiert, dass sie in absurdem Gegensatz zu den bildreich und schön beschriebenen stehen: In einem Streit wird unserem Protagonisten Akan Seri prophezeit: „Du wirst am Ende meine Scheiße fressen!“ und wird rhetorisch gefragt: „Ist dir die Pferdesuppe ins Gehirn gestiegen?“ Ihm wird ins Gesicht gesagt: „Mein kleiner Finger ist mehr wert als du“. Und selbstverständlich ist der Dichter von diesem Streit gekränkt.
Gut und Böse
Doch das Verletzen zieht sich ohnehin durch die Geschichte, die hier erzählt wird. Das Verletzen mit der Sprache, die dem Dichter seinen Lebensunterhalt und sein Lebensgefühl erhält, spielt sich auf intellektueller Ebene ab. Körperlich wird es, als sich im Ringkampf zwei Männer gegenseitig verletzen. Einer der Kämpfer, der zuvor noch den Respekt aller genoss, wird verhöhnt, als er mit gebrochenem Bein auf der Erde liegt. Tiere, die hier durchgängig Teil des alltäglichen Lebens sind, werden in großen Mengen geschlachtet. Als Höhepunkt der Gewalt steht am Ende des Werks der Tod des Pferdes, das dem Kasachen alles bedeutet und dem Seri Akan das Leben ist. Das Verletzen ist immer symbolhaft und zieht sich durch die Handlung, die sich nur darüber und in ihrem Gegensatz zur Schönheit definieren kann. Shansugirows Epos ist ein Werk der Gegensätze und Spannungen.
Große Übertreibungen bringen große Gefühle – in beide Richtungen. Gute sind sehr gut, Böse äußerst schlecht. Schöne Worte sind bis zum Kitsch reich verziert, während die Beschreibungen des Hässlichen jeglichen guten Ton vergessen. Absolute Gegensätze treffen hier in Versen aufeinander und passen nicht in die bekannte deutsche Poesie.
Auch die Feier, die den Todestag eines einflussreichen Mannes jährlich begeht, gibt den Gegensätzen den Raum, den sie braucht, um sich so kräftig zu entfalten, wie sie es in den Versen Shansugirows bzw. Heidenreichs vermag. Sie wird Totenfeier genannt. Hier wird aber nicht nur des Todes des alten Mannes gedacht. Hier wird auch um das Leben, mit dem Leben der Anwesenden gespielt. Ein Ringkampf zwischen zwei starken Männern endet fast tödlich, auf den Gewinner einer jeden Wette warten Kamele, Pferde oder Waisenkinder, Rennpferde sollen im großen Rennen ihren Besitzern die Ehre bringen.
Diese Totenfeier wird letztendlich zum Sinnbild des Todes selbst, das sich im Mord am Pferd Kulager zuspitzt: Der Tod dieses Tiers wird wiederum zum Totenfest der Fliegen und der Geier der Steppe.
Menschen und Tiere
Die Bedeutung von Leben und Tod spiegelt sich auch in dem immer wiederkehrenden Motiv wieder, wie sich Tiere und Menschen miteinander vermengen – Menschen werden wie Tiere und Tiere wie Menschen beschrieben oder behandelt.
Die Ringer, die mit ihren bloßen Körpern gegeneinander antreten, einen Ring buhlender Menschen um sich herum, werden vor Beginn des Kampfs angepriesen, die Stimmung wird eingeheizt. Der größere von beiden sei „stiernackig“, habe einen „Tigerrücken“ und „Schenkel wie ein Kamel“. Sein Gegner, klein zwar, aber geschickt, sei „lauernd wie ein Habicht“ und hechte fort „wie ein Fisch“.
Die Waisenkinder und Bettler, die sich vom Festmahl heimlich ein wenig Essen stehlen, wirken dabei verbotener als die zahlreichen Steppenvögel, die sich wenig heimlich über die Massen an Lebensmitteln hermachen: „Raubvögel, Raben, Krähen picken Kutteln und Pferdewürste, bis sie würgen müssen“. Diese Beschreibung der Vögel wiederum folgt auf eine Szene, in welcher der Leser Menschen wörtlich beim Fressen beobachtet – und spätestens hier wird deutlich, dass zwischen Menschen und Tieren an diesem Ort Parallelen bestehen, deren Grenzen in absurden Bildern verwischen.
Die Liebe zum Pferd
Das Pferd ist hiervon nicht ausgenommen, nimmt jedoch eine Sonderrolle ein. Das Pferd und der Kasache werden hier bei jeder Gelegenheit als eine Einheit beschrieben: „Wahrscheinlich stimmt, was man uns unterstellt: Wir gäben Frau und Freund her für ein Pferd.“ Denn „das Pferd ist der Reichtum der Kasachen“ und dem liegt eine große Leidenschaft zugrunde, die sich einerseits recht pragmatisch erklärt: „Das Pferd ist Reittier, Fleisch und Stutenmilch. Seit alter Zeit erlaubt es uns zu leben.“ Als die Pferde im Rennen gegeneinander antreten, wird ihr Ritt ebenso personifiziert: „Nichts, wie es die Art von uns Kasachen ist, bremst sie, da sie ihr Ziel vor Augen sehn.“
Kulager – der Sohn einer Adlerin
Der Name des titelgebenden Pferds wird rhetorisch so hochgelobt, dass es zum Sinnbild des Kasachen selbst wird. Der Sohn eines Hengstes und eines Adlerweibchens soll er gewesen sein. Sein Ruf als gutes Rennpferd, der ihm voraus eilt, macht ihn auf besagtem Fest zur Zielfläche etlicher Aussagen. Die letzte, die einzig gute unter den Lästerern, macht das Pferd zum Kasachen: „kasachisch“, sei Kulager, „durch und durch und unvermengt“ – eindeutig das schnellste Pferd unter den 1300 im Rennen in der Steppe antretenden Tiere.
Die Forderung nach Gerechtigkeit
Der Tod dieses Tieres beim Rennen heizt der Menschenmasse ein. Unter Akan Seris Tränen wird gestritten, argumentiert, fast gemeuchelt. Der Mörder des Tiers ist ein einflussreicher Mann, dessen Pferd beim Rennen gewinnen sollte. Die Wut des Volkes wird groß, zunächst „achtet keiner mehr die Macht der Reichen“. Doch wieder beweist die Sprache ihre Macht: Der einflussreiche Mann spricht wütend, gewalttätig, aber auch rhetorisch geschickt zu den Menschen, die zunächst noch Gerechtigkeit fordern – „und die Bedrohten werden plötzlich still“.
Symbolträchtig wird hier also nicht nur der Mord an einem Pferd beschrieben. Ilijas Shansugirow hat damit den Nerv seiner Zeit getroffen – er war ein „Bedrohter“, der nicht „still wurde“. Sein Werk aber ist und bleibt vielschichtig. Neben seinem politischen Kontext offenbart das Epos ein facettenreiches Bild der kasachischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Durch Heidenreichs Nachdichtung ist es der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht worden. Dabei gewährt es Einblick in kulturelle Besonderheiten, in denen der Lesende aber besser weniger Wahrheiten manifestiert, als vielmehr Möglichkeiten findet, neue und unbekannte Bilder freizuschalten. Auf Bedeutung festschreiben lässt sich das lange Gedicht nicht – schon aufgrund seines freiheitlichen Charakters. Wieder und wieder Lesen und Neues entdecken lässt sich dafür sehr wohl.
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„Das Lied von Kulager“ von Ilijas Shansugirow ist 2016 in einer deutschen Nachdichtung von Gert Heidenreich in der Edition Büchergilde erschienen, als Band 16 der Reihe Weltlese. Die Hartcoverausgabe hat 144 Seiten und eine CD liegt bei, auf welcher der Text als Hörbuch zur Verfügung steht, eingesprochen von Gert Heidenreich. Das Buch kostet 25€. ISBN: 978-3-86406-050-2.