Nelli Rein ist in Turgen, einem kleinen Ort 60 Kilometer von Almaty entfernt aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nachdem sie mit ihren Eltern nach Deutschland ausgewandert ist, war sie bis vor kurzem seit 40 Jahren nicht mehr in Kasachstan. Im Interview erzählt sie über ihre Erlebnisse.
Frau Rein, bitte erzählen Sie uns ihre Geschichte. Welche Verbindung haben Sie zu Kasachstan?
Ich bin am Ural in der Nähe von Ischewsk geboren. Meine Eltern sind auf dem Weg der Verschleppung dahingekommen. Nach dem Krieg sind sie dort in einem Arbeitslager und in iner so genannten Sondersiedlung gelandet. Im Jahr 1956 sind sie frei geworden und hatten die Erlaubnis, sich innerhalb der Sowjetunion zu bewegen. So haben sie sich entschieden, nach Kasachstan, Turgen, umzuziehen, wo bereits einige deutsche Familien aus dem Arbeitslager am Ural sich angesiedelt haben. Das ist ein Ort, 60 Kilometer östlich von Almaty.
Mit sechs Jahren bin ich nach Turgen gekommen, dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nach acht Jahren hatte ich die Fachhochschulreife, das war damals so. Dann bin ich 1974 nach Almaty auf eine technische Fachhochschule gegangen. Dort habe ich nur ein Jahr studiert, weil meine Eltern 1975 eine Ausreisegenehmigung bekommen hatten.
Das ist ja verhältnismäßig früh. Können Sie sich noch genauer daran erinnern, was passiert ist?
Also meine Eltern hat es damals 19 Jahre gekostet, überhaupt eine Ausreisegenehmigung zu bekommen. Sie haben jedes Jahr aufs Neue Anträge gestellt und durften nicht ausreisen. Ich bin mit diesem Ziel meiner Eltern aufgewachsen. Meine Großmutter väterlicherseits war schon seit 1945 in Deutschland und mein Vater war in den Kriegswirren in Russland in efangenschaft genommen worden. Meine Eltern sind in der Ukraine geboren. Als damals die Wehrmacht in die Ukraine einmarschiert war, wurden viele Deutschstämmige, die dort gelebt hatten, nach Deutschland deportiert. So kam es, dass mein Opa in den Krieg und mein Vater zum Reichsarbeitsdienst geschickt wurden. Später sind mein Opa und mein Vater, er war damals 16 Jahre alt, in Russland, im Ural in Gefangenschaft geraten. Meine Großmutter ist mit den jüngeren sechs Kindern geflohen und konnte sich in der Nähe von Lüneburg ansiedeln. Sie hat ihre sechs kleinen Kinder ganz alleine erzogen und versorgt – eine enorme Leistung!
Als mein Vater damals im Arbeitslager war, hatte er versucht festzustellen, wo sich seine Familie aufhielt und hatte mit Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes in Erfahrung gebracht, dass meine Oma in Deutschland war und mein Opa sich auch in russischer Gefangenschaft befand.
Meine Oma väterlicherseits war also schon seit 1945 in Deutschland. 1965 durfte mein Opa zurück zu seiner Frau und seinen sechs Kindern. Seine jüngste Tochter hat er zum ersten Mal gesehen als sie bereits 20 Jahre alt war. Zehn Jahre später wurde dann auch meinen Eltern mit sechs Kindern und Oma mütterlicherseits die Ausreise nach Deutschland ermöglicht. Mein Vater hat seine Mutter im Endeffekt dreißig Jahre (1945-1975) nicht gesehen. An das Wiedersehen der beiden kann ich mich noch sehr lebhaft erinnern, vor Aufregung hat meine Oma am ganzen Leib gezittert und musste sich hinsetzen. Ihren ältesten Sohn hatte sie zum letzten Mal im Alter von 16 Jahren gesehen und nun war er 46 als sie ihn wiedersah. Sie erst nur „Mein Junge ist wieder da!“ sagen und weinen, es war für uns alle sehr bewegend.
Meine Eltern haben entschieden, sich in Bielefeld anzusiedeln, um allen möglichst gute Chancen für Berufsausbildung und Arbeit zu bieten. Dort habe ich meine Berufsausbildung abgeschlossen und mich entschieden nach Südamerika zu gehen.
Das ist ja interessant, was haben Sie dort gemacht?
In Uruguay/Montevideo habe ich zwei Jahre lang ein theologisches Seminar besucht, anschließend noch ein Jahr in Argentinien/Montevideo. Dann habe ich bei einer Deutschen Spedition gearbeitet und einen Pflegekurs im deutschen Krankenhaus gemacht. In Brasilien/Mato Grosso durfte ich ein Jahr lang in einer Kirchengemeinde bei der Frauen– und Jugendarbeit mithelfen.
Welche Erinnerungen haben Sie aus Kasachstan?
Ich erinnere mich natürlich sehr gut an das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Also an die Schule und so. Es war schon immer mein Wunsch, das noch einmal wiederzusehen. Ich war bereits 1979 zu Besuch in Alma-Ata, durfte aber die Stadt nicht verlassen und auch nicht mein Dorf besuchen. Mein Dorf Turgen und einige der Mitschüler habe ich jetzt erst, seit fast 40 Jahren zum ersten Mal wiedergesehen.
Waren Sie also schon dort?
Ja natürlich, als erstes habe ich mein Dorf Turgen aufgesucht und war die ersten drei Tage meiner Reise dort. Das war natürlich sehr wichtig für mich, alles einfach wiederzusehen und zu verarbeiten.
Können Sie ihre Eindrücke beschreiben?
Ich habe das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, überhaupt nicht wiedererkannt. Es hat sich so manches verändert. Bisher war das in meinem Kopf immer so, wie ich es damals verlassen hatte. Das ist jetzt anders. Ich sehe das Ganze jetzt auch aus der Erwachsenenperspektive. Damals, als ich noch ein junges Mädchen war, erschien mir alles größer und klarer. Es war einfach anders als heute. Jetzt habe ich das alles kleiner und enger gesehen. Die Straße, den Fluss, über den wir damals hinübergehen mussten auf unserem Weg zur Schule. Das alles war einfach größer in meiner Erinnerung. Jetzt ist kaum Wasser in dem Fluss, und ich finde, dass die Gegend auch irgendwie grauer geworden ist. Um das Haus herum standen viele Kirsch– und Pflaumenbäume, im Garten Apfel– und Birnenbäume – das alles ist jetzt nicht mehr da. Neben dem Haus befand sich ein großes Stück Garten, in dem wir Kartoffeln angebaut haben. Jetzt geht dort eine Straße durch. Man hat um die Ecke vom Haus eine Straße gebaut. Etwas weiter befand sich ein Feld, in dem wir spielten und wo auch Mais angebaut wurde. Dort steht jetzt ein Haus. Das, was Feld war, ist nun bebaut. Deswegen habe ich „meine Spielwelt“ nicht mehr wiedererkannt.
Diese Straße kommt mir heute so eng vor. Ich meine, die Häuser stehen genauso da wie damals, aber ich empfand das jetzt enger.
Ich habe die Straße und die Nachbarhäuser fotografiert und alles, woran ich mich erinnern kann und wozu ich noch einen Bezug habe. Zum Beispiel Krankenhaus, Musikschule, Möbelgeschäft, das Häuschen in dem Altglas abgeliefert werden konnte – das war mein Taschengeldverdienst – und noch einiges mehr.
Das alles hab ich nicht mehr als Heimat empfunden. Hätte ich das Dorf zwischendurch besucht, wäre das vielleicht anders. Damals lebten in unserer Straße nur deutsche Familien. Eine einzige alte russische Frau, wir nannten sie „Baba Schura“, lebte schräg gegenüber von uns. Wir hatten eine gute Beziehung zu ihr, sie versorgte uns Kinder mit Leckereien. Wir halfen ihr zum Beispiel, Wasser aus dem Fluss zu holen, Kirschen zu ernten, oder einzukaufen. Sie passte öfters auf unsere kleine Schwester auf, wenn wir in der Schule und meine Eltern noch auf der Arbeit waren. Es ist eine schöne Erinnerung! Baba Schura lebt nicht mehr.
Kennen Sie die Leute, die da jetzt in ihrem alten Haus wohnen?
Nein. Unser deutscher Nachbar hatte uns unser Haus damals abgekauft. Er ist mit seiner Frau und einem kleinen Kind dort eingezogen. Sie haben einiges am Haus verändert und verbessert, z.B. Wasserleitung gelegt, das ist für damalige Verhältnisse echter Luxus gewesen. Diese Familie ist allerdings auch schon in Deutschland. Nun lebt eine türkische Familie in dem Haus. Jetzt sind auch die Obstbäume weg – ich verstehe nicht, warum. Aber ich konnte auch nicht mit den Leuten reden – sie waren nicht zuhause.
In welcher Sprache haben Sie sich zuhause unterhalten? Haben Ihre Eltern mit Ihnen Deutsch oder Russisch gesprochen?
Meine Eltern haben versucht mit uns deutsch zu sprechen, meine drei älteren Geschwister haben Deutsch gelernt. Da meine Eltern voll gearbeitet haben, war mein Sprachumgang tagsüber mit Geschwistern, Nachbarn, Mitschülern nur russisch gewesen. Ich muss dazu sagen, dass das Deutsch meiner Eltern kein Hochdeutsch war, sondern ein Dialekt.
Als ich nach Deutschland kam, konnte ich einfach kein Deutsch. Wir hatten zwar in der Schule lesen gelernt, aber Sprechen und das umgangssprachliche Deutsch verstehen viel mir trotzdem schwer.
So habe ich praktisch von Null angefangen die deutsche Sprache zu erlernen und habe mir viel Mühe dabei gegeben.
Haben Sie Erinnerungen an ihre Schulzeit oder an den Kindergarten?
Im Kindergarten war ich nicht. Unsere Oma war zuhause und hat uns praktisch durchgebracht. Meine Eltern waren beide berufstätig, sie haben beide schwer gearbeitet. Meine Mutter hat in Turgen in der Ziegelfabrik gearbeitet und mein Vater in einer Fabrik (Remsawod), die Werkzeugmaschinen reparierte. Das waren die zwei großen Arbeitgeber in Turgen. Nach der Perestroika ist das alles geschlossen worden. Für viele Menschen war so eine existentielle Grundlage weggebrochen. Das hat mich in den letzten Tagen hier sehr beschäftigt. Die Menschen waren innerhalb kurzer Zeit ohne Arbeit und ohne Perspektive. Das hatte enorme Auswirkungen auf die Lebensgeschichte von so einigen meiner Mitschüler. Es sind auch tragische Geschichten dabei.
Ich habe meine Schule wiedergesehen, sie wurde vor einem Jahr renoviert. Das Dach wurde erneuert, neue Fenster, die Fassade wurde neu gestrichen. Die Schule sieht super aus. Bin sehr gerne durchgelaufen und habe die Turnhalle gesehen. Der Sportlehrer war sehr nett, hat sich sogar fotografieren lassen. Zwei meiner Mitschüler arbeiten jetzt in der Schule. Eine Lehrerin erlaubte mir ihre Klasse im Matheunterricht zu fotografieren. Auf dem Schulhof begegnete ich der Klassenlehrerin meiner Schwester, sie konnte sich sofort an unsere gesamte Familie erinnern. Es war einfach sehr schön!
Warum sind sie jetzt zurückgekehrt?
Warum ich jetzt hierhergekommen bin, das ist ganz einfach; ich hab schon immer davon geträumt, mein Dorf, Mitschüler, Schule und Alma-Ata wiederzusehen. Ich hatte irgendwie immer noch sehr intensive Bilder aus der Vergangenheit in Erinnerung und wollte jetzt die Realität sehen.
Ich habe auch einige meiner Mitschüler getroffen. Alle haben sich natürlich in ganz verschiedene Richtungen entwickelt. So einigen geht es beruflich und finanziell sehr schlecht. Viele haben hier einfach keine Arbeit und auch keine Zukunftsperspektiven. Es ist auch deprimierend zu sehen, dass mancher Luxus in Almaty so gar nichts mit der Realität in den Dörfern zu tun hat. Der Hang zur Korruption und zügelloser Bereicherung hat auf mich einen seltsamen Schleier von Traurigkeit gelegt. Ich kann jetzt auch besser verstehen, wenn Menschen sagen, dass die Folgen der Perestroika für sie persönlich nicht gut waren. Das habe ich aus meiner deutschen Sicht lange nicht verstanden. Schade, dass ein so hohes Gut, wie Freiheit so missbraucht wird und Menschen in Perspektivlosigkeit leben müssen. Der Besuch meiner Heimat aus der Kindheit ist für mich sehr wichtig und sinnvoll. Ich wünsche den Menschen in Turgen, Almaty und ganz Kasachstan, dass sie den Weg aus ihren ganz persönlichen schweren Situationen herausfinden, wieder Hoffnung haben und eine gute Entwicklung erleben.
Frau Rein, vielen Dank für das Gespräch.
Interview: Dominik Vorhölter