Der Angriff des nationalsozialistischen Deutschland auf die UdSSR stürzte die sowjetischen Deutschen in den Abgrund unzählbarer Leiden und unmessbaren Elends; der Krieg mit Deutschland bedeutete die Liquidierung der Nationalstaatlichkeit und völlige Rechtlosigkeit – die Beraubung aller Menschen- und Bürgerrechte.

Fortsetzung. Anfang in der vorherigen Ausgabe.

Am 28. August 1941 erlässt das Präsidium des Obersten Sowjets das Dekret „Zur Umsiedlung der Deutschen, die in den Regionen des Wolgagebietes leben“, und am 7. September des gleichen Jahres das Dekret – „Zur Verwaltungsstruktur des Territoriums der ehemaligen Republik der Wolgadeutschen“. Die Republik wurde liquidiert und ihr Territorium in zwei Teile aufgegliedert, die in die Struktur der Gebiete Saratow und Stalingrad übergingen.

In dem Dekret hieß es: „Nach zuverlässigen Angaben der Militärbehörden gibt es unter der deutschen Bevölkerung, die in den Wolgaregionen leben, Tausende und Zehntausende Deserteure und Spione, die auf ein aus Deutschland gegebenes Signal Explosionen in den von den Wolgadeutschen bewohnten Gebieten erzeugen sollen. Im September und Oktober 1941 verabschiedet das Staatliche Verteidigungskomitee mit der Unterschrift J. Stalins eine Serie von Verordnungen über die Deportation Deutscher aus Moskau und dem Moskauer Umland, den Kreisen Krasnodar und Ordschonikidze, der Kabardino-Balkarischen und Nordossetischen ASSR, den Gebieten Tula, Zaporozhe, Stalin, Woroschilowgrad und Woronesch, der Georgischen, Aserbaidschanischen und Armenischen SSR sowie aus den ASSR Dagestan und Tschetscheno-Inguschetien.“

Die Leitung der Umsiedlung wurde dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD) der UdSSR anvertraut, welches in kürzester Zeit – innerhalb von
5 Tagen – hunderttausende Menschen nach Sibirien, Kasachstan und Zentralasien verlegte. Die Verordnung des Staatlichen Verteidigungskomitess schlug heuchlerisch vor, die Deutschen in „leerstehende Gebäude“ in ländlichen Gebieten umzusiedeln. In Wirklichkeit war dies ein Ankommen der Menschen in der Steppe, an einem kahlen Ort. Nur dank der Barmherzigkeit der örtlichen Bevölkerung – Kasachen, Usbeken, Tadschiken, Russen – die den unglücklichen Menschen Schutz gewährten, sind viele Frauen und Kinder nicht an Hunger, Kälte oder Krankheit gestorben.

Hunderttausende Familien wurden aus ihren Geburtshäusern gerissen und in ferne, unbewohnte Gegenden gebracht, und die Männer wurden für die Arbeitslager mobilgemacht. Aber selbst das schien für diejenigen, die den Kurs des Staatsschiffes bestimmten, nicht genug zu sein.

Unmenschliche Verordnung

Am 7. Oktober 1942 verabschiedet das Staatliche Verteidigungskomitee einen Beschluss „Zur zusätzlichen Mobilmachung der Deutschen für die Volkswirtschaft der UdSSR“. Dies ist eines der tragischsten Dokumente der Geschichte. Es enthielt die Direktive: „Zusätzlich für die Arbeitskolonnen alle männlichen Deutschen einschließlich derer im Alter von 15-16 Jahren sowie von 51 – 55 Jahren für die gesamte Zeit des Krieges zu mobilisieren…“

Die Verfasser der Verordnung verurteilten ebenso deutsche Frauen im Alter von 16 – 45 zur Mobilmachung in die Arbeitskolonnen für die gesamte Zeit des Krieges. Von der Mobilmachung befreit waren nur schwangere Frauen und jene, die Kinder bis 3 Jahre hatten. Kinder, die älter als 3 Jahre alt sind, so erklärt das Dokument, „werden zur Erziehung an die übrigen Mitglieder der jeweiligen Familie übergeben. Wenn es außer den mobilisierten keine anderen Familienmitglieder gibt, werden die Kinder zur Erziehung an die nächsten Verwandten oder die deutschen Kolchosen gegeben“.

Das Staatliche Verteidigungskomitee wies die lokalen Räte der Arbeitnehmervertreter an, „Maßnahmen zu ergreifen, um Kinder ohne Eltern in Waisenhäusern für mobilisierte Kinder unterzubringen…“ und stellte die strafrechtliche Verantwortung der Deutschen fest „sowohl wegen Nichterscheinen zur Mobilmachung an den Einberufungs- oder Sammelpunkten, als auch für das eigenmächtige Verlassen der Arbeit oder für die Desertion von den Arbeitskolonnen…“

Diese unmenschliche Verordnung riss die deutschen Familien auseinander (in jeder Familie gab es in der Regel 6-8 Kinder) und zerbrach die familiären Bande: Väter, Ehemänner und Brüder befanden sich für die gesamte Kriegszeit in den Minen und Schächten Sibiriens und Kasachstans in vollständiger Isolation. Die Mütter, Ehefrauen und Schwestern waren in den petrochemischen Unternehmen und den Bergbaubetrieben Sibiriens. Die Kinder wurden zu Waisen mit lebenden Eltern, im besten Falle in der Obhut älterer Verwandter, im schlechtesten Fall in den Waisenhäusern der Kolchosen. Viele Kleinkinder sind an Unterernährung und Krankheiten gestorben.

Russlanddeutsche als gefährliches „Sonderkontingent“

„Diese Barbarei habe auch ich erlebt. Frauen, unter denen sich meine Mutter, Tante Wera und die Frau meines Onkels befanden, wurden auf einem Platz versammelt. Tante Wera mit fünf Kindern wurde aussortiert. Aber ich klammerte mich an meine Mutter und schrie so sehr, dass ein Soldat, der die Frauen für die Zuführung gruppierte, befahl: „Bringen Sie sie zur Ruhe, oder ich werde es machen.“ Niemand schaffte es, mich vom Fuß meiner Mutter loszureißen. Tante Wera kam tränenüberströmt und sagte: „Marusja, bleib du bei den Kindern, und ich gehe in die Arbeitsarmee. Du kommst besser mit den Kindern zurecht…“ So rettete ich meine Mutter vor der Arbeitsarmee“.

Die russischen Deutschen wurden als gefährliches „Sonderkontingent“ im ganzen Land verstreut. Dies war ein wahrlich satanischer Plan, und er brachte Stalin und Berija Ruhm. In den Minen und Holzwerken, in den Fabriken und Werken haben die russischen Deutschen zusammen mit dem gesamten Volk in selbstloser Arbeit die Verteidigungsfähigkeit des Landes gestärkt und den Sieg über das faschistische Deutschland sichergestellt. Aber auch nach dem Sturz des Feindes hat die wachsame stalinistische Führung in den sowjetischen Deutschen nur die „fünfte Kolonne“ gesehen!

Am 8. Januar 1945 verabschiedet der Rat der Volkskommissare der UdSSR den Beschluss „Über den rechtlichen Status der Sonderumsiedler“, welcher die Rechtlosigkeit der Deutschen für viele Jahre festlegt. Es war das selbe Gefängnis, lediglich ohne Stacheldrahtzaun. Die Sonderumsiedler hatten nicht das Recht, ohne Erlaubnis des Kommandanten der Sonderkommandantur des NKWD das innerhalb Bezirksgrenzen liegenden Siedlungsgebiet zu verlassen; die unbefugte Abwesenheit wurde als Flucht angesehen und brachte eine Strafanzeige mit sich.

Aber die Grausamkeit der Urheber der stalinistischen Nationalitätenpolitik kannte keine Grenzen. Am 26. November 1948 wurde ein Dekret vom Präsidium des Obersten Rates der UdSSR verabschiedet, in welchem mit jesuitischem Gleichmut angekündigt wurde: „Die deportierten Völker, einschließlich der Deutschen, wurden in den „entlegenen Gegenden der Sowjetunion für immer angesiedelt“, ohne das Recht ihrer Rückkehr an ihre früheren Wohnorte.“

Hoffnung auf Rehabilitierung kommt erst mit Tauwetterperiode

Für das unerlaubte Verlassen (Flucht) von den Orten der Zwangsumsiedlung wurde die strafrechtliche Verantwortlichkeit festgestellt – 29 Jahre Zwangsarbeit. Das Stigma der Überwachung wurde von den Deutschen erst nach dem Tod Stalins genommen – im Jahr 1955 wurden auf Erlass des Präsidiums des Obersten Rates der UdSSR vom 13. Dezember die Deutschen von der Verwaltungsaufsicht durch die Organe des Innenministeriums befreit, aber sie hatten nicht das Recht, an die Orte zurückzukehren, von denen sie vertrieben wurden.

Und erst mit Beginn der „Tauwetterperiode“, als der Personenkult Stalins entlarvt wurde, entstand die Hoffnung auf die Befreiung von der nationalen und sozialen Diskriminierung. Am 29. August 1964 verabschiedete das Präsidium des Obersten Rates der UdSSR ein Dekret „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgagebieten lebten“, welches bestätigte, dass die Anschuldigungen unbegründet und ein Ausdruck der Willkür unter den Bedingungen des Stalinkultes waren.

Mit dem Erlangen der politischen Rehabilitation streben die an allem unschuldigen sowjetischen Deutschen danach, die nationale Staatlichkeit wiederherzustellen. Aus ihrer Mitte heraus tritt eine Initiativgruppe hervor, welche Briefe und Appelle an das Zentralkomitee der KPdSU und an die Regierung mit der Bitte vorbereitet, die Republik der Wolgadeutschen wiederherzustellen.

In den Jahren 1965 bis 1988 rüsten sich in Moskau eine Reihe von Initiativgruppen für ein Treffen mit den Staatsoberhäuptern. Auf Empfängen im Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, des Zentralkomitees der KPdSU, in den Redaktionen und Magazinen der Delegationen sprachen sie von den ungeheuerlichen Ungerechtigkeiten gegenüber ihrem Volk, sie argumentierten und überzeugten von der Notwendigkeit, die Frage der Neuschaffung der ASSR der Wolgadeutschen zu klären, sie reichten schriftliche Erklärungen mit tausenden Unterschriften ein. Alles war vergebens. Sie wurden freundlich empfangen und es wurden vage Versprechungen gegeben.

Rehabilitierung wird zum kollektiven Ziel

Moskau wurde von Briefen der überlebenden Veteranen überschüttet – von Vätern der glorreichen Geschichte der russischen Deutschen, von Intellektuellen, Schriftstellern und Journalisten. Ein aufs andere Mal kamen neue Delegationen nach Moskau, deren Zahl immer weiter wuchs. Auch die Ausdauer der Delegierten wuchs, und ihre Entschlossenheit, Ergebnisse zu erzielen.

Die Idee der Rehabilitierung unschuldiger russischer Deutscher sah bereits nicht mehr wie das Schicksal einiger Einzelgänger aus, denen man das Etikett des Nationalisten anhängte, sie wurde zum Ziel des Kampfes aller russischer Deutscher. Ein Indikator des Ausmaßes der entstehenden Nationalbewegung der russischen Deutschen war ihre breite Teilnahme an der konstituierenden Konferenz, die in Moskau organisiert wurde und an der 135 Delegierte aus 38 Regionen aller Republiken der Sowjetunion teilnahmen.

Die Konferenz selbst war der Beginn des Kampfes des Volkes um ihre nationale Existenz, das erste Scharmützel mit dem Staat, der das Recht nicht aufgeben wollte, alleinig über das Schicksal kleiner Völker zu bestimmen, und dies dem Volk selbst verweigerte. Die Organisatoren der Konferenz, deren Gründer nahmen dieses Recht in die eigenen Hände. In der Nationalbewegung der russischen Deutschen trat eine Etappe der Umwandlung informeller gesellschaftlicher Vereinigungen in offiziell anerkannte ein, damit die proklamierte „Unterstützung der Regierung der UdSSR bei der Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen“ real vertretbar und möglich wird.

Wladimir Auman
Übersetzung: Philipp Dippl

Fortsetzung folgt…

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